Philologische Wochenschrift 52 (1932) pp. 350-351
Tertullian und Lucrez.
In seiner Abhandlung "Über die Echtheit der letzten Hälfte von Tert.s adv. Iud.", Lund 1918, hat M. Åkerman S. 36 f. darauf hingewiesen, daß Tert. adv. Marc. III 13 (396, 14): scilicet vagitu ad arma esset convocaturus infans et signa non tuba sed crepitacillo daturus und was weiter folgt (= adv. Iud. 9 [II 721 Oehl.]) nachgeahmt ist aus Lucrez V 222ff.1). Auch wird de An. 5 (305, 7) und adv. Marc. |p351 IV 8 (438, 6) ein ganzer Lucrezvers (I 304), an letzterer Stelle ohne Angabe des Verfassernamens, angeführt. Ich glaube nun noch eine weitere Stelle, an der mit Lucreznachahmung zu rechnen ist, beibringen und zugleich der nämlichen Stelle endgültig zur Klarheit verhelfen zu können.
Ad Nat. 17 = Apol. 8 sucht Tert. die bei den Heiden verbreiteten Gerüchte über die widerlichen Einweihungsriten, der Christen zunichte zu machen, indem er ironisch diese angeblichen Riten in hellen Farben ausmalt. "Also die künftigen Christen gehen zuerst zum Vorsteher der Mysterien um zu lernen2), welche Vorbereitungen zu treffen sind": ad Nat. I 7, 23 3): tum ille dicet: infans tibi qui adhuc vagit (so die meisten Herausgeber; die Hs uagetur) necessarius, qui immoletur, et panis aliquantum qui in sanguine infringatur seq.; Apol. 8, 7: tum ille : infans tibi necessarius, adhuc tener, qui nesciat mortem, qui sub cultro tuo rideat; item panis quo sanguinis iurulentiam colligas seq. Das uagetur des Codex Agobardinus hat man bisher nicht verstanden und es in verschiedenster Weise zu bessern versucht 4); allein die Lesart der Hs läßt sich verteidigen, wenn man Lucrez III 447 f. zur Vergleichung heranzieht: nam velut infirmo pueri tenero que vagantur | corpore, sic animi sequitur sententia tenvis. Wir haben im ad Nat. wohl mit einer Reminiszenz an Lucrez zu tun; das vagetur hatte aber dadurch, daß alles Übrige, was an der Lucrezstelle noch dazu gehörte, fortgelassen wurde, gewissermaßen eine neue Bedeutung bekommen, war aber eben dadurch nicht mehr leicht verständlich, und so fand denn auch der Autor sich veranlaßt, in der Neubearbeitung der Stelle im Apol. den Ausdruck durch das Adjektiv tener zu ersetzen (vgl. wiederum die Lucrezstelle!), das also genau dasselbe besagen soll, wie vorher qui . . . vagetur!
Im Anschluß an das oben Gesagte sei es mir nun vergönnt, die merkwürdige Erscheinung, daß irgendein Wort durch Weglassung einer näheren Bestimmung selbst eine Bedeutung bekommt, die ursprünglich durch diese Bestimmung bedingt war oder der Verbindung beider zukam 5), mit einem anderen, ebenfalls der Schrift ad Nationes entnommenen Beispiel zu verdeutlichen und die betr. Stelle zu heilen. Der Anfang von I 7 handelt von dem Wesen der Fama, welche die falschen Gerüchte gegen die Christen in Umlauf gesetzthabe; die Partie endet mit diesen Worten (17,7): videte, quale prodigium (so Oehler: qualem prodigiam A) adversus nos subornastis, quia quod semel detulit tantoque tempore ad fidem corroboravit, usque adhuc probare non potuit; vgl. die Parallelstelle Apol. 7, 14: Hanc indicem adversus nos profertis, quae, quod aliquando iactavit tantoque spatio in opinionem corroboramt, usque adhuc probare non valuit. Der Text der Hs ist hier sicher verdorben: ein Wort prodigiam gibt es gar nicht; dennoch glaube ich jetzt nicht mehr, daß die auch von mir aufgenommene Konjektur Oehlers das Richtige trifft 6). Derselbe Oehler hatte in seiner Ausgabe vom Jahre 1849 qualem prodigam vermutet, was eine entschieden leichtere Besserung der Korruptel bedeutet, und sie wird richtig sein. Denn "prodigus" wird im Spätlatein bisweilen mit "lingua" verbunden: Gell. I 15, 17: lingua tam prodiga infrenisque; Amm. Marc. XXVIII 6, 28: cum sibi iussas abscidi linguas didicissent ut pro digas. Eine "verschwenderische Zunge" ist eine Zunge, die zu viel spricht, also eine schwatzhafte oder verräterische; so kann "prodigus" zu der Bedeutung "schwatzhaft'' oder "verräterisch" gekommen sein. Diesen Sinn wird nun das Adjektiv an unserer Stelle, wo es als Substantiv verwendet ist, haben; aber diese Bedeutung war offenbar niemals eine jedermann geläufige; so hat denn Tert., genau so wie an der oben besprochenen Stelle, dies seltene Wort im Apol. durch das in Bedeutung entsprechende, aber gewöhnlichere indicem ("Angeberin") ersetzt.
Haag.
J. W. Ph. Borleffs.
1. p.350 1) Man beachte vs. 223 infans, 226 vagitu, 229 crepitacillis, letztere die einzige Stelle außer Tert., wo das Wort begegnet. — Åkerman benutzt diese (im adv. Iud. las man bisher crepitaculo) und andere Stellen, um im Einzelnen darzutun, daß der zweite Teil von adv. Iud. unmöglich von Tert. selbst herrühren kann; interessant ist nun, daß der neu aufgefundene Codex Trecensis (vgl. diese Wochenschrift 51 [1931] Sp. 251 f.), der auch adv. Iud. enthält, nicht nur an dieser Stelle crepitaculo hat, genau wie im Antimarcion steht, sondern auch an den anderen von Åkerman ün adv. Iud. gerügten Stellen vielfach denselben Ausdruck wie das frühere Werk auf weist; nach dieser Seite hin wenigstens muß also der von Å. gelieferte "vollgültige Beweis der Unechtheit" (so Schanz III3 S. 293) einer gründlichen Revision unterzogen werden, denn daß in T oder in seiner Vorlage der Text im adv. Iud. nach dem Antimarcion zurechtgemacht wäre, wird doch wohl kein Vernünftiger annehmen wollen.
2. 2) Apol. 8, 7 ist wohl mit Löfstedt (Tert.s Apol. 1915 S. 81) describere (discr-) der Hss in discere zu bessern, auch wenn in der neuen Ausgabe des Apol. von Waltzing-Severyns diese Konjektur nicht einmal der Erwähnung wert gehalten wird.
3. 3) Ich zitiere nach meiner Ausgabe, Leiden 1929.
4. 4) vagietur Gothofredus (unmöglich); nugetur Oehler in seiner Ausgabe vom Jahre 1849, qui ad hoc vadetur in den späteren; baiuletur Klußmann; vagit (Leopold) ist schon deshalb falsch, weil der Konjunktiv unbedingt erforderlich ist (gegen Hartel Patr. Stud. II [1890] S. 40, 2), während vagiat unmöglich in der Überlieferung zu uagetur hätte führen können.
5. 5) Das bekannteste Beispiel ist vielleicht Verg. Aen. VI 424: custode sepulto = "somno sepulto, in tiefem Schlafe", nachgeahmt von Commodian Apol. 239: non respicientes prophetarum dicta sepulti; aber die Erscheinung ist viel allgemeiner und verdient einmal eingehend behandelt zu werden, unter Heranziehung auch der modernen Sprachen, aus denen man für diesen Gebrauch viel lernen kann. Aus Vergil vgl. etwa Aen. VII 671: (Allecto) terras caelumque levavit, wo "levare" fast "verlassen" bedeutet, und daselbst 582: martemque fatigant.
6. 6) Die anderen vorgeschlagenen Besserungen sind zum Teil noch gewaltsamer oder entschieden falsch: quale prodigium iam Hartel; qualem praestigam Birt, um von den älteren gar nicht zu reden.
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