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Tertullians Bibliothek christlicher Schriften.
Von ADOLF HARNACK.
Der Abhandlung über Tertullian in der Literatur der alten Kirche (Sitzungsber. 1895, 13. Juni) lasse ich eine Untersuchung über die Frage folgen, welche christliche Schriften Tertullian gekannt und be- nutzt hat. Wenn ich dabei kurzweg von seiner »Bibliothek« spreche, so soll damit nicht behauptet sein, daß er die Bücher sämtlich selbst besessen hat. Wo sie zu suchen sind, darüber sind nur Mutmaßungen möglich. Sie legen es übrigens nicht nahe, daß man an eine Bi- bliothek der Gemeinde von Karthago zu denken hat. Die andere Frage, welche Bücher direkt und welche nur indirekt zu seiner Kenntnis gekommen sind, muß von Fall zu Fall entschieden werden.
Das Problem, welche christlichen Bücher Tertullian gekannt hat, ist deshalb von besonderem Interesse, weil er der erste christliche Schriftsteller Afrikas und der erste lateinischschreibende Schriftsteller der abendländischen Kirche überhaupt gewesen ist. Welche Bücher schon um das Jahr 200 aus der griechischen Kirche zu den Lateinern gekommen waren, lohnt sich zu untersuchen. Doch muß man sich hüten, Tertullians Kenntnisse zu verallgemeinern. Immerhin aber wird die Untersuchung lehren, mit welchem theologischen Kapitale die la- teinische Kirche begonnen hat.
Ein Problem für sich bildet die Frage, welche Schriften bereits ins Lateinische übersetzt waren. Wo sie sich nahelegt, wird sie be- handelt werden. Ein gewisser Prozentsatz der karthaginiensischen Gemeinde verstand Griechisch, ja die Anfänge des Christentums in Afrika sind wohl unter den dortigen Griechen zu suchen. Tertullian selbst hat ein paar Schriften
---- leider sind sie uns verloren gegangen ---- in griechischer Sprache geschrieben. In bezug auf das umfangreiche, griechisch verfaßte Werk »
Über die Ekstase« steht es fest, daß er hier die griechische Sprache gewählt hat, um mit ihm in die große montanistische Kontroverse einzugreifen, einen kleinasiatischen Be- streiter der montanistischen Prophetie zu widerlegen und überall in
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der Kirche verstanden zu werden1. Das »Apologetikum« hat er nicht griechisch verfaßt; aber es erschien bald2 auch den Griechen so be- deutend, daß sie es in ihre Sprache übersetzt haben.
---- Von einem punischen Christentum hören wir in Tertullians Schriften überhaupt nichts; es ist immer unliterarisch geblieben3.
§ 1. Die Bücher des Alten und Neuen Testaments.
Diese Bücher ---- sie heißen als einzelne und insgesamt »scriptura«, »scripturae«, »sacrae [vel] divinae scripturae«, »divinae litterae«. »di- vina litteratura«, »divinum[a] instrumentum[a]«, »instrumentum litte- raturae«, »instrumenta doctrinae«, »sancti commentarii«, »sancta di- gesta«, »sacrosanctus stilus«, »litterae fidei« usw.
---- waren dem Ter- tullian zur Hand, und zwar die ATlichen im Umfang des alexandrinischen Kanons (mit Sap. Sal., Judith, Maccab. usw.) und von den 27 Schriften, die heute im N. T. stehen, alle außer II. Pet., II. und III. Joh. und Jacob.4 Es ist wohl nicht zufällig, daß sich erst in den späteren Schriften Tertullians die runde Bezeichnung »utrumque testamentum« (»duo testamenta« bzw. »instrumenta«), »vetus et novum testamentum« findet. Die ältere Bezeichnung ist (de praescr. 36): »lex et prophetae . . . evangelicae et apostolicae litterae« bzw. statt des letzteren einfach
1
Seine erste Schrift über die Schauspiele schrieb er griechisch ----
der »sua- viludii« wegen (de corona 6). In diesen Kreisen scheint also Griechisch beliebter gewesen zu sein als Latein. Nun wissen wir, daß noch damals viele Eingeborene Afrikas ungern Latein sprachen (s. Apulejus, Apolog. 68 [von einem jungen Mann]: »loquitur numquam nisi Punice, et si quid adhuc a matre graecissat; enim Latine neque vult neque potest«). Die Schwester des Kaisers Septimius Severus konnte sich lateinisch nur mühsam ausdrücken und mußte daher vom Kaiser nach Leptis zurück- geschickt werden (Spart., Vita Severi 15). THIELING (Der griechische Kultureinfluß in den römischen Provinzen Nordafrikas, Berlin 1911) zeigt, wie groß der Einfluß des Griechischen bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts gewesen ist. Man erinnere sich auch, daß die ältesten afrikanischen Martyrien lateinisch und griechisch überliefert sind. Perpetua (Act. c. 13) spricht neben dem Latein griechisch: »et coepit Perpetua Graece cum illis loqui.«
2
Gewiß vor der Zeit des Decius, denn seit der Mitte des 3. Jahrhunderts war es durch die Entwicklung der Verhältnisse antiquiert. In den 25 Jahren vor Decius war es kaum notwendig: also wird die Übersetzung, die Eusebius in der Bibliothek zu Cäsarea gefunden hat, dem Original bald gefolgt sein.
3
Der erste afrikanische Märtyrer war ein Punier Namphamo (s. Augustin, ep. 16. 17). Obgleich die Donatistische Bewegung größtenteils eine punische war, spielt in ihrer literarischen Selbstdarstellung das Punische keine Rolle.
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Vgl. ROENSCH, Das N.T. Tertullians. 1871. ---- Aus Scorp. 12 ergibt sich mit Sicherheit, daß Tertullian den Jakobusbrief, den er niemals zitiert, auch nicht gekannt hat. Das Fehlen von Zitaten aus III. Joh. und II. Pet. könnte zufällig sein; allein das, was wir sonst über die Geschichte dieser Briefe im Abendland wissen, spricht gegen einen Zufall. Den 2. Johannesbrief aber kann Tertullian ge- kannt haben (s. das Murat. Fragment und die Bezeugung im Corpus Cypr.).
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»evangelium«, aber auch »scripturae dominicae et apostolicae« (de praescr. 44; de pat. 7)1. Für das A. T. findet sich auch der Ausdruck »Judaica litteratura« (de cultu I, 3; adv. Marc. III, 6), den der Ver- fasser des Barnabasbriefs und Justin nicht geduldet hätten, ferner »prophetica paratura« (de anima 2); im Gegensatz dazu heißt das N.T. im Apol. 47 »nostra novitiola paratura«. Die Zweiteilung des N. Ts. ist auch in den frühesten Schriften bestimmt ausgeprägt (»evangelium«, »evangelia«, »evangelicum instrumentum« und dazu das »apostolicum instrumentum«), aber ebenso zeigt sich noch, daß die Evangelien den Grundstock der neuen Sammlung bilden. Das »apostolicum instru- mentum« (»apostoli«) mit ROENSCH (S. 49 f.) in vier Unterteile zu zer- legen, ist Willkür. Mit größter Wahrscheinlichkeit dürfen wir an- nehmen, daß die karthaginiensische Bibel der damaligen römischen wesentlich entsprochen hat. Denn das berühmte Wort de praescr. 36: »... habes Romam, unde nobis quoque auctoritas praesto est2 . . ., vide- amus, quid ecclesia Romana didicerit, quid docuerit, cum Africanis quoque ecclesiis contesserarit . . . legem et prophetas cum evangelicis et apostolicis litteris miscet«, zeigt, daß er, der Afrikaner, sich auch in bezug auf die Bibel mit der römischen Kirche in Übereinstimmung weiß kraft der Tradition, die von Rom ausgegangen ist3.
Die kanonsgeschichtlichen Fragen, die sich an einzelne dieser Schriften in bezug auf Tertullians Zitate erheben, lasse ich hier bei- seite; jedoch sei folgendes bemerkt: Während der Verfasser des Mu- ratorischen Fragments das A. T. für abgeschlossen, die neue Sammlung aber noch für bereicherungsfähig (durch Urteil der Kirchen) erklärt, spielt Tertullian mindestens mit dem Gedanken (s. unten), auch das A. T. könne und müsse noch durch kirchliche Entscheidung bereichert werden, da die Juden manche Schriften zuungunsten der Christen entfernt hätten. In bezug auf das N. T. liegt es am Tage, daß Ter- tullian es nicht für abgeschlossen gehalten hat (s. unten sein Urteil über den Hermas). Vom Hebräerbrief steht es fest, daß Tertullian ihn gekannt, aber nicht im N. T. der karthaginiensischen Kirche ge-
1
Der älteste und eigentümlichste Ausdruck, den ich bei Tertullian gefunden habe, steht de praescr. 40: »instrumenta divinarum rerum [Evv. allein? A. T. und Evv?] et sanctorum Christianorum« [doch wohl der »apostolus«], vgl. II Clem. 14:
ΤᾺ ΒΙΒΛΊΑ ΚΑῚ ΟἹ ἈΠΌΞΤΟΛΟΙ, Mart. Scil.: »libri et epistulae Pauli viri iusti«.
2 Vgl. adv. Marc. IV, 5: »Videamus quod lac a Paulo Corinthii hauserint, ad quam regulam Galatae sint recorrecti, quid legant Philippenses, Thessalonicenses, Ephesii, quid etiam Romani de proximo sonent.«
3
Ein spezifisch karthaginiensisch-afrikanisches kirchliches Selbstbewußtsein gegenüber Rom findet sich bei Tertullian noch nicht
---- auch nicht in seiner montanistischen Periode, in der er römisch-kirchliche Kundgebungen so scharf be- kämpft hat.
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funden hat und ihn bei aller Hochschätzung auch dort nicht sehen wollte, da Barnabas, unter dessen Name der Brief zu Tertullians Kennt- nis gekommen war1, kein Apostel im strengen Sinne gewesen ist2.
Die zweiteilige Bibel erscheint in allen Schriften Tertullians als ein fester Besitz der Kirche; nichts deutet auf eine ältere Zeit zurück, in der es noch keine »novitiola paratura« (»neu«, nicht im Unter- schied von einer früheren Zeit, sondern im Gegensatz zum A. T.) gegeben hat.
Besaß Tertullian, besaß die karthaginiensische Kirche die Bibel schon in der lateinischen Sprache? Nach den Bemühungen anderer (ZAHN, CORSSEN usw.) habe ich diese Frage in meiner Altchristlichen Lit. Gesch. II
2. S. 296 ff. behandelt («Die lateinische Bibel zur Zeit Ter- tullians und vor ihm«) und darf auf diese Untersuchung verweisen. Es ist aus allgemeinen und aus textkritischen und geschichtlichen Gründen überwiegend wahrscheinlich, um nicht mehr zu sagen, daß, wenn auch nicht alle, so doch die wichtigsten Schriften der Bibel bereits in einer lateinischen Übersetzung existierten. Besonders auch die Privatlektüre der heiligen Schriften, die Tertullian voraussetzt und zu der er ermahnt (s. z. B. ad uxor. II, 6; de exhort. 10), macht es so gut wie gewiß, daß die lateinischen Christen mindestens einen Teil der heiligen Schriften in ihrer Sprache lasen3. Und wenn dem latei- nischen Publikum gegenüber immer wieder auf die allgemeine Zugäng- lichkeit der heiligen Schriften hingewiesen wird (z. B. Apol. 31; de spect. 29: de testim. 1), so kann man nicht glauben, daß es sich ausschließlich um Werke, die nur in griechischer Sprache vorhanden waren, gehandelt hat. Auch nach Tertullian freilich sind die heiligen Schriften schon dadurch zu allgemein zugänglichen geworden, daß sie ins Griechische übertragen worden sind, s. Apol. 18: Voces propheta- rum itemque virtutes in thesauris litterarum manent nec istae latent« (es folgt die Legende über die Entstehung der Septuaginta, die mit den Worten schließt: »adfirmavit haec vobis etiam (!) Aristaeas. ita in Graecum stilum exaperta monumenta reliquit. hodie apud Serapeum Ptolemaei bibliothecae cum ipsis Hebraicis litteris exhibentur, sed et
1
Barnabas galt auch in Rom als der Verfasser.
2
Nicht ganz gewiß ist, daß I. Pet. in der kirchlichen Sammlung gestanden hat. Man sollte denken, Tertullian hätte ihn häufiger und energischer verwerten müssen, wenn er zum kirchlichen Instrumentum gehörte. Im Murat. Fragment fehlt er bekanntlich.
---- Sehr beachtenswert ist, daß Tertullian nur solche Schriften zum N. T. gerechnet hat, die sich auch heute noch in ihm finden. Selbst die Apokalypse Petri fehlt.
3
Siehe meine Untersuchung »Über den privaten Gebrauch der hl. Schriften in der alten Kirche«, 1912.
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Judaei palam lectitant . . . vulgo aditur sabbatis omnibus1«); aber das hat mit unsrer Frage nichts zu tun2.
Anderseits ist gewiß, daß Tertullian in der griechischen Bibel lebte und webte, sie stets zur Hand hatte und in zahlreichen Fällen aus ihr selbst übersetzte3. Ob ihm mehrere Bibelexemplare zu Gebote standen, darüber schweben noch die Untersuchungen; den Daniel zitiert er in adv. Jud. nach Theodotion, sonst nach der Septuaginta.
Was diese Schriften im Unterschied von aller übrigen Literatur ----
und namentlich die Bücher Mosis ---- bedeuten, das hat er in ver- schiedenen Wendungen immer wieder zum Ausdruck gebracht. De pallio 2 schreibt er: »Ferme apud vos ultra (Ninum) stilus non solet; ab Assyriis, si forte, aevi historiae patescunt. qui vero divinas lecti- tamus, ab ipsius mundi natalibus compotes sumus.« Wenn er dann im folgenden die Urgeschichte des Genesis als »arcana ista, nec omnium nosse« (c. 3) bezeichnet, so ist das nach de testim. 1 zu verstehen
---- eine Aussage, die übrigens nur cum grano salis richtig ist: »Ad nostras litteras nemo venit nisi iam Christianus,« obgleich von christlicher Seite gilt (Apol. 31): »scripturas sacras non subprimi- mus.« Daß die heiligen Schriften imstande sind, die ganze übrige Lite- ratur zu ersetzen, wird de spect. 29 behauptet: »Si scenicae doctrinae delectant, satis nobis litterarum est, satis versuum, satis sententiarum,
1
Vgl. Apol. 31: »plerique casus scripturas sacras ad extraneos transferunt.«
2 Die Bezeichnung der Bücher nach ihren griechischen Titeln ist natürlich kein Beweis dagegen, daß sie auch lateinisch vorhanden waren. Titel sind zäh und haben sich bekanntlich für einige Bücher der Bibel durch alle Jahrhunderte hindurch im Abendland in der griechischen Sprache erhalten. Übrigens benutzt Tertullian auch latei- nische Titel. Interessant sind Wendungen bei Tertullian wie de pud. 18: »in pro- verbiis Salomonis, quae
ΠΑΡΟΙΜΊΑΣ
dicimus«; adv. Marc. V. 8: »donativa, quae charis- mata dicimus.«
3
Auf ein paar Stellen möge hier verwiesen sein. Adv. Marc. II, 9 (zu Genes. 2): »Imprimis tenendum quod Graeca scriptura (also gab es für die Genesis doch wohl auch eine Latina) signavit afflatum nominans non spiritum«; adv. Marc. IV, 14: »Beati mendici
---- sic enim exigit interpretatio vocabuli quod in Graeco est [also bot die scriptura Latina »pauperes«, wie wir überall, auch bei Tertullian selbst, lesen]
---- quo- niam illorum est regnum dei«; V, 4 (Gal. 4, 24): »haec sunt enim duo ,testamenta' sive duae ,ostensiones' sicut invenimus interpretatum« [also doch wohl in der lateinischen Bibel]; V, 8 (zu Ephes. 4, 8): »,dedit data filiis hominum', id est donativa, quae cha- rismata dicimus« (»data« stand in der lateinischen Bibel; Tertullian verdeutlicht dieses Wort zunächst durch »donativa«, um dann seinen eigentlichen Sinn durch das geist- lich-technische Wort »charismata« zu erschließen); V, 17 (Ephes. 1, 9f.): »,secundum boni existimationem
[ΕΨΔΟΚΊΝ], quam proposuerit in sacramento voluntatis suae in dispensationem adimpletionis temporum'
---- ut ita dixerim, sicut verbum illud in Graeco sonat: ,recapitulare' i. e. ad initium redigere vel ab initio recensere omnia in Christum« (hier übersetzt er selbst); de monog. 11 (zu I. Cor. 7, 39): »sciamus plane non sic esse in Graeco authentico, quomodo in usum exiit per duarum syllabarum eversionem« (es handelt sich um »dormit« oder »dormierit«). Tertullian ruft das griechische Original gegen einen angeblich entstellten lateinischen Text zu Hilfe.
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satis etiam canticorum, satis vocum, nec fabulae, sed veritates, nec strophae, sed simplicitates.« Der Eindruck, den das A. T. (und in seinem Gefolge das N. T.) auf einen Teil der Gebildeten der griechisch- römischen Welt gemacht hat, kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Es gibt kein zweites Beispiel in der Geschichte Europas dafür, daß neu auftauchende Bücher solche Wirkungen gehabt haben
---- die Welle griechischer Bücher, die im 15. Jahrhundert über West- europa kam, ist trotz Homer und Plato eine schwache Welle gewesen verglichen mit der biblischen. Die Bücher Mosis, die Psalmen, die prophetischen Bücher
---- nach Inhalt und Form haben sie wie eine neue Sonne und ein neuer Sternhimmel gewirkt! Wie gering ist ihnen gegenüber der Einfluß, den damals die anderen orientalischen Reli- gionsbücher alle auf die Köpfe und Gemüter der Menschen ausgeübt haben! Die wichtigste Charakteristik des A. Ts. steht Apol. 18----20. Sie zeigt, daß ihn das A. T. ebenso gepackt hat wie die griechischen Apologeten. Ehrlich hat er sich bemüht, es zu verstehen.
Tertullian hat sich eine ausgezeichnete Bibelkenntnis in beiden Teilen der Sammlung erworben. Das beweist die Fülle seiner Schrift- zitate1. An nicht wenigen Stellen bringt er ganze Ketten von Schrift- beweisen, die um so mehr besagen, als er einmal erklärt, allein auf sein Gedächtnis angewiesen zu sein2. Er besaß also keine Chresto- mathien wie die Testimonia Cyprians, die in bequemer Weise gesam- melte Bibelstellen unter bestimmten Stichworten den späteren lateini- schen Gelehrten und Predigern darboten. Wenn er zahlreiche Bibel- stellen zum Beweise einer These anführt, beobachtet er nicht selten eine bestimmte Reihenfolge, die im A. T., soweit ein Urteil möglich ist, mit der überlieferten übereinstimmt. Im N. T. läßt er stets die Evangelien vorantreten; aber in welcher Reihenfolge er sie las, läßt sich nicht ausmachen3. Vielleicht hatte damals noch jedes Evangelium seine eigene Rolle. Die Paulusbriefe las er wohl in der Reihenfolge Kor., Gal., Phil., Thess., Eph., Rom.4. Am Schluß standen die Privat- briefe. Aber irgendwelches Gewicht hat Tertullian auf die Reihen- folge nicht gelegt und verübelte es Marcion nicht, daß seine Samm-
1
Siehe den Index von OEHLER und die Spezialarbeit von ROENSCH a. a. 0. Die Zahl der Schriftzitate beträgt zwischen 3000 und 4000. Die Gleichmäßigkeit seiner Kenntnis der verschiedenen Teile der Bibel ist bewunderungswürdig.
2
Siehe de idolol. 4; hier bringt er Zitate in bezug auf das biblische Bilder- verbot und sagt am Schluß: »Et quid ego, modicae memoriae homo, ultra quid sug- geram? quid recolam de scripturis?« Vgl. auch adv. Marc. IV, 14.
3
Gegen ROENSCH; s. ZAHN, N. T.liche Kanonsgesch. II, S. 366.
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Siehe de praescr. 36; adv. Marc. IV, 5 (vgl. dazu die Reihenfolge im Murat. Fragment, die anders ist, aber auch mit Cor. beginnt und mit Rom. schließt). Über die Stellung von Col. läßt sich nichts ausmachen. Siehe ZAHN, a. a. 0. S. 344 ff.
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lung eine andere Sukzession der Briefe bot1. Verwechslungen von Schriften sind bei Tertullian sehr selten2. Über Stellen, die als Zitate aus Schriften erscheinen, aber dort nicht gefunden werden, s. Anhang I.
§ 2. Schriften, welche die Bibel begleiteten.
Die Schriften, welche Tertullian an ein paar Stellen seiner Werke unter dem Namen »Apokrypha« meint, gehören nicht in diesen Para- graphen. De anima 2 schreibt er: »Visa est quidem [philosophia] sibi et ex sacris, quas putant, litteris hausisse, quia plerosque auctores etiam deos existimavit antiquitas, nedum divos, ut Mercurium Aegyp- tium, cui praecipue Plato adsuevit, ut Silenum Phrygem . . . . ut Hermotimum .... ut Orpheum, ut Musaeum, ut Pherecydem Pytha- gorae magistrum. quid autem, si philosophi etiam illa incursaverunt, quae penes nos apocryphorum confessione damnantur3, certos nihil recipiendum quod non conspiret germanae et ipso iam aevo pronatae propheticae paraturae, quando et pseudoprophetarum meminerimus?« Hiernach ist es klar, daß er unter »Apocrypha« gnostische Pro- phetenschriften versteht, nicht aber apokryphe Schriften im späteren kirchlichen Sinn des Wortes. Dasselbe folgt ebenso deutlich aus de resurr. 63, wo dem Gnostiker gesagt wird: »Nihil mirum, si odisti [scil. resurrectionem], cuius auctorem quoque respuisti, quam et in Christo aut negare aut mutare consuesti, proinde et ipsum sermonem dei, qui caro factus est, vel stilo vel interpretatione corrumpens, arcana etiam apocryphorum superducens, blasphemiae fabulas.« Dieser Sinn von «Apocrypha« wird durch de pud. 10 und 20 be- stätigt. Hier nennt er den «Hirten des Hermas«, da er sich nun- mehr überzeugt hat, er sei eine schlechthin verwerfliche, unsittliche Schrift «Pastor apocryphus« und rechnet ihn unter die »apocry- pha et falsa«. Von einer kirchlich zu benutzenden apokryphen Literatur weiß Tertullian schlechterdings nichts4.
1
Daß Tertullian de praescr. 36 (init.) voraussetzt, die Briefe der Apostel seien noch im Original im Besitz der Gemeinden, an die sie gerichtet, ist wahrscheinlich. Von Bedeutung ist diese aprioristische Annahme natürlich nicht.
2
Adv. Iud. 4: »Dicit enim Esaias propheta: ,Sabbata vestra odit anima mea' (Jes. 1, 14), et alio loco dicit: ,Sabbata mea profanastis'« (Ezech. 22, 8), braucht keine Verwechslung zu sein, da man zu dem zweiten «dicit« nicht notwendig »Esaias« sup- plieren muß. Wohl aber sind in de fuga 2 die Häretiker in I. Tim. 1, 20 mit denen in II. Tim. 1, 15 verwechselt. Bei den Zitaten aus der profanen Literatur sind Ver- wechslungen, z. T. schlimme, häufiger.
3
Um kirchliche Urteile im Zusammenhang mit der Feststellung des N. T. handelt es sich.
4
Es ist ein Zeichen der fortschreitenden kirchlichen Stabilisierung, daß der Name »Apokryphen«, der ursprünglich nur häretischen Schriften galt, auf solche Bücher übertragen wurde (vgl. Hieronymus), die, obgleich gut christlich, doch nicht für kanonisch gelten dürfen.
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Aber mit und neben der Bibel sind doch auch noch andere Schriften zu ihm gelangt, und zwar erstens mindestens zwei jüdische Apokalypsen. Zwar behauptet er adv. Iud. 8, die Juden hätten nach Christus keine prophetischen Schriften mehr hervorgebracht1; aber diese Behauptung vermag er nur aufzustellen, weil er die späteren jüdischen prophetischen Schriften, die ihm neben dem A. T. bekannt geworden sind, irrtümlich für vorchristlich hält.
Das Buch Henoch ist ihm vermutlich zusammen mit der Bibel bekannt geworden, und er legt es unbedenklich dem alten Henoch bei. In de idol. 4 zitiert er es zweimal neben den heiligen Schriften und begreift es mit unter dem Titel »scripturae«. In c. 15 zieht er es noch einmal herbei und sagt: »Spiritus sanctus Ventura praececinit per antiquissimum propheten Enoch.« Ein weiteres Zitat steht de cultu II, 10, und es folgt ihm ein Zitat aus Jesaias. Hiernach müßte man urteilen, daß die Apokalypse Henoch in seinem A. T. gestanden hat. Allein wie es sich wirklich verhält, zeigt die kanonsgeschichtlich außerordentlich wichtige Stelle de cultu I, 3. Sie beginnt mit den Worten: »Scio scripturam Enoch, qui hunc ordinem angelis dedit, non recipi a quibusdam, quia nec in armarium Iudaicum admittitur. opinor, non putaverunt illam ante cataclysmum editam post eum ca- sum orbis omnium rerum abolitorem salvam esse potuisse.« Tertullian zeigt demgegenüber, daß Noah das Buch wohl gerettet haben kann, oder daß er es eventuell aus dem Gedächtnis wiederhergestellt hat;
dann fährt er fort: »Sed cum Enoch eadem scriptura etiam de do-
mino praedicarit, a nobis quidem nihil omnino reiciendum est quod
pertineat ad nos, et legimus omnem scripturam aedificationi habilem divinitus inspirari. a Iudaeis potest iam videri propterea reiecta, sicut
et cetera fere quae Christum sonant. nec utique mirum hoc, si scrip-
turas aliquas non receperunt de eo locutas, quem et ipsum coram
loquentem non erant recepturi. eo accedit, quod Enoch apud Iudam
apostolum testimonium possidet.«
Aus dieser Darlegung ergibt sich:
(1.) Die karthaginiensische Kirche hatte das Buch Henoch nicht in ihrem A. T.
(2.) Sie hatte es nicht und wollte es auch nicht aufnehmen, weil
die Juden es nicht in ihrem A. T. hatten2.
1
»Post adventum Christi et passionem ipsius iam non visio neque prophetes est qui Christum nuntiet venturum. denique hoc si non ita est, exhibeant Judaei prophetarum post Christum aliqua volumina, angelorum aliquorum visibilia miracula, quae retro patriarchae viderunt usque ad adventum Christi,« etc.
2 Davon konnte man sich leicht überzeugen. In Karthago und in ändern Städten Afrikas gab es Judengemeinden; s. MONCEAUX, Les colonies Juives dans l'Afrique Romaine (Rev. des Etudes Juives, 1902) und meine Missionsgesch. I2, S.3.
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(3.) Tertullian unterstellt denen, die das Buch ablehnten, daß sie ihre Ablehnung auch durch Bezweiflung der Echtheit des Buchs stützten. Oder haben sie wirklich dieses Argument geltend gemacht?
(4.) Er selbst wünscht das Buch aus fünf Gründen im A. T. der Kirche zu sehen: a) weil seiner Echtheit nichts im Wege steht, b) weil in das A. T. alles gehört, was über Christus weissagt, c) weil alles Erbauliche nach Paulus von der Gottheit inspiriert sei1, d) weil der Umfang des jüdischen A. Ts. für die Kirche nicht maßgebend sein könne; denn die Juden hätten vieles ausgemerzt, ja ganze Schriften, weil sie Christum verkündigen2, e) weil das Buch Henoch durch den Brief des Apostels Judas bezeugt sei.
(5.) Tertullian teilt die Voraussetzung nicht, daß das A. T., wie es von den Christen als Sammlung anzuerkennen und in Gebrauch zu nehmen ist, schlechthin abgeschlossen sei (da man sich einfach an den Kanon der Juden zu halten habe), vielmehr ist er der Meinung, daß die Akten noch nicht geschlossen seien. Diese Meinung ist, wenn sie jemals in weiteren christlichen Kreisen bestanden hat, sehr bald in der Kirche zum Schweigen gekommen3. Hätte sie sich durchge- setzt und mit ihr das unbedacht von Tertullian ausgesprochene Prinzip, alles Erbauliche sei inspiriert, so wäre das A. T. zersetzt worden (bzw. auch das N. T.). Unsere Stelle aber ist nicht die einzige, in welcher Tertullian seine Vorstellung, der Umfang beider Testamente stehe unter der Revision der Kirche, zum Ausdruck gebracht hat; vgl. das »damnantur« und das »certi nihil recipiendum4 quod non conspiret germanae et propheticae paraturae« (de anima 2, s. o.), was voraussetzt, daß die Kirche noch immer rezipieren könne, und siehe weitere Beleg- stellen unten. Wäre es nach Tertullian gegangen, so hätten wir also das Henochbuch im A. T. Zweifellos hätte es dort Unfug angerichtet.
1
Dieser Satz ist aus einer unstatthaften Umkehrung von II Tim. 3,16 entstanden.
2
Für diese Behauptung konnte sich Tertullian aus der älteren christlichen Literatur, soviel wir wissen, nur auf Justian stützen. Aber daß die Juden aus anti- christlicher Tendenz ganze Schriften verworfen hätten, davon sagt Justian nichts, und schwerlich hat ein christlicher Schriftsteller vor Tertullian diese exorbitante Behauptung aufgestellt.
3
Lehrreich ist es zu vergleichen, wie anders zwei Jahrhunderte später Hiero- nymus das Buch Henoch behandelt. Im Kommentar zu Ps. 134 zieht er es heran, aber salviert sich mit den Worten: »non in auctoritatem, sed in commemorationem«. Dies entspricht seiner allgemeinen Anweisung, wie man »Apokryphen« zu lesen habe »non ad dogmatum veritatem, sed ad signorum reverentiam«. Im Kommentar zu Titus c. 1 schreibt er: »Qui putant totum librum debere sequi eum qui libri parte usus sit, videntur mihi et apocryphum Enoch, de quo apostolus Judas in epistula sua testi- monium posuit, inter ecclesiae scripturas recipere, et multa alia quae apostolus Paulus de reconditis est locutus«. Hieronymus will also die Folgerung nicht gelten lassen, die Tertullian ans dem Henochzitat bei Judas für die Dignität des Henochbuchs zieht.
4
Vgl. zu diesem Ausdruck das Murat. Fragment.
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Die andere Apokalypse, welche Tertullian wahrscheinlich kennt, ist das sogenannte 4. Buch Esra. In de praescr. 3 zitiert er mit »inquit« den Spruch IV Esra VIII, 20 (VIOLET S. 228): »oculi domini alti«. Nur dieses einzige Zitat findet sich; es ist also eine sehr schmale Grund- lage, auf welcher die Behauptung, Tertullian habe dieses Buch gekannt und als heilig geschätzt, beruht; aber sie reicht meines Erachtens aus1.
Auch wenn Tertullian nichts neben dem A. T. zitieren würde, so be- weisen doch manche Auslegungen, daß er das Buch zusammen mit einer exegetischen Tradition erhalten hat. Soviel Eigentümliches die Ter- tullianische Exegese bietet
---- improvisiert war sie nicht überall, viel- mehr erkennt man an einer Fülle von Stellen, durch Vergleichung mit Exegesen anderer, daß er auf einer Überlieferung fußt. Diese Über- lieferung war zum Teil eine jüdische (s. einige Exegesen in adv. Marc. II. III und adv. Iud.), zum Teil eine christliche. Ob die jüdische eine vermittelte oder direkte war, läßt sich im einzelnen Fall nicht ent- scheiden. Aus Justins Dialog mit Trypho konnte er viel entnehmen, und daß er Justin gekannt hat, wird sich unten zeigen. Aber aus Ver- handlungen und Disputationen mit Juden ließ sich auch manches lernen. Solche haben stattgefunden; beginnt doch Tertullian seinen Traktat adv. Judaeos (c. 1) mit den Worten: »Proxime accidit, disputatio habita est Christiano et proselyto Judaeo. alternis vicibus contentioso fune uterque diem in vesperam traxerunt. obstrepentibus etiam quibusdam ex partibus singulorum nubilo quodam veritas obumbrabatur. placuit ergo, quod per concentum [contentum?] disputationis minus plene potuit dilucidari, inspici curiosius et lectionibus [lectionis?] stilo quaestio- nes retractatas terminare«2. Aber auch manches Einzelne zeigt, daß Tertullian von einer das A. T. begleitenden Tradition Kenntnis ge- nommen hat. Er kennt den Aristeasbrief oder weiß doch von seinem Inhalte (Apol. 18). Er beruft sich auf den »Judaeus Josephus antiqui- tatum Judaicarum vernaculus vindex« (Apol. 19)
---- ob er ihn wirklich gelesen hat, bleibt dunkel. Er kennt die Legende, daß Esra das »in- strumentum Judaicae litteraturae« aus dem Gedächtnis wiederhergestellt habe (de cultu I, 3). Er weiß von der Zersägung des Jesajas (de pat. 14, Scorp. 8), der Steinigung des Jeremias (Scorp. 8) und dem Mord des Zacharias »inter altare et aedem, perennes cruoris sui maculas silicibus assignans«3 (a.a.O.). Er weiß auch, daß der Prophet I Reg. 13 der
1
Ob adv. Marc. IV, 16 (»loquere in aures audientium«) auf Esra XV, 1 zu be- ziehen ist (dieses Kapitel gehört bekanntlich nicht zur Esra-Apokalypse), lasse ich dahingestellt.
2
Daß dieser Eingang auf einer literarischen Fiktion beruht, läßt sich nicht erweisen.
3
Christliche Überlieferung?
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dort nicht genannt ist, »Sameas« geheißen habe1. Endlich kennt er das jüdische Sibyllenorakel III, 108ff. (ad nat. II, 10)2.
Auch neben der neutestamentlichen Sammlung hat Tertullian urchristliche Schriften gekannt. Zwar von den Clemensbriefen3, den Ignatiusbriefen, dem Polykarpbrief4 und Papias5 finden sich keine Spuren bei ihm und die Kenntnis der Didache ist eine bloße Möglichkeit6, die des Barnabasbriefes nicht einmal eine solche trotz einiger Berüh- rungen (adv. Marc. III, 7 und adv. Jud. 14 mit c. 7; adv. Marc. III, 18 und adv. Jud. 10 mit c. 12). Auch eine Kenntnis der Testamenta XII patriarcharum wird man nicht auf eine flüchtige Berührung in Scorp. 13 gründen wollen. Aber gekannt hat er außerhalb des N.Ts. den Hebräer- brief, den Hirten des Hermas und die Acta Pauli7.
Den Hirten des Hermas hat er bereits in einer lateinischen Ver- sion gekannt8 und de orat. 16 also eingeführt: »Item quod adsignata oratione adsidendi mos est quibusdam, non perspicio rationem, nisi quam pueri volunt. quid enim, si Hermas ille, cuius scriptura fere ,Pastor' inscribitur, transacta oratione non super lectum adsedisset, verum aliud quid fecisset, id quoque ad observationem vindicaremus? utique non. simpliciter enim et nunc positum est: ,Cum adorassem et adsedissem super lectum', ad ordinem narrationis, non ad instar disciplinae. alioquin nusquam erit adorandum, nisi ubi fuerit lectus, immo contra scripturam fecerit, si quis in cathedra aut subsellio sederit.« Er rechnet den »Hirten« also zu den heiligen Schriften
---- zum N.T. gehörte er damals schwerlich in Karthago; denn für dog- matische Beweise benutzt ihn Tertullian nie
---- und findet es daher in der Ordnung, daß man sich für eine Frage der Disziplin auf ihn beruft, bestreitet also nur in dem gegebenen Fall die Anwendung.
1
Dieser Name kommt meines Wissens sonst in der Überlieferung für diesen Propheten nicht vor (wohl aber andere).
2
Dieses Orakel gehört der Zeit um 140 a. Chr. an. Tertullian, der sonst keine Kenntnis der jüdischen Sibyllenorakel verrät, wird es aus indirekter Überlieferung er- halten haben.
3
In Apol. 48 ist nur ein ganz unsicherer Anklang. Andere Anklänge, die nichts beweisen, sind de resurr. 12. 13 und de virg. vel. 13. Den »von Petrus zum Bischof ordinierten römischen Clemens« kennt er (de praescr. 32). Die römische Bischofsliste hat er bei Irenäus gefunden, vielleicht aber besaß er sie auch von Rom her direkt.
4
Den Polykarp kennt er, und zwar als von Johannes in Smyrna eingesetzten Bischof (a. a. O., ebenfalls nach Irenäus).
5
Aus Hieron. de vir. inl. 18 (s. auch Gennadius) folgt nicht, daß Tertullian ihn gekannt hat.
6
De orat. 11: »Alias enim ,Via' cognominatur disciplina nostra«
---- das reicht nicht aus.
7
Hierher wäre auch 1. Pet. zu rechnen, wenn er nicht im Neuen Testament selbst stand, s. o.
8
Siehe meine Altchristi. Lit.-Gesch. II, 2, S.312ff.
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Gesammtsitzung vom 19. Februar 1914.
Auch in der verlorenen Schrift de censu animae hat er ihn benutzt1. Allein dann hat er als Montanist sein Urteil gründlich geändert. Um das Jahr 200 und später noch haben, wie auch das Muratorische Fragment lehrt, Verhandlungen darüber in den Kirchen stattge- funden, ob der »Hirte« förmlich dem N. T. zuzurechnen sei
---- ein weiterer Beweis (s. o.) dafür, daß sich die Kirchen damals noch die Kompetenz beilegten, über den Umfang der neuen Sammlung nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Wie der Verfasser des Muratorischen Fragments lehnt Tertullian nunmehr den »Hirten« ab, aber mit Gründen, die die ablehnende Motivierung Jenes weit hinter sich lassen. Er erklärt (de pudic. 10): »Sed cederem tibi [scil, seinem Gegner, in erster Linie dem römischen Bischof Kailist], si scriptura Pastoris, quae sola moechos amat, divino instrumento meruisset incidi, si non ab omni concilio ecclesiarum, etiam vestrarum, inter apo- crypha et falsa iudicaretur, adultera et ipsa et inde'patrona sociorum, a qua et alias initiaris, cui ille, si forte, patrocinabitur pastor quem in calice depingis .... de quo nihil libentius libas quam ovem paenitentiae secundae.« Dazu a. a. O. 20: »Et utique receptior2 apud ecclesias epistola Barnabae illo apocrypho Pastore moecho- rum.« Daß alle Kirchen ihn verurteilt hätten, ist eine Behauptung, die Tertullian selbst durch seine animose Polemik widerlegt.
Die in dieser Polemik genannte »epistula Barnabae« ist der He- bräerbrief. Wie Tertullian ihn a. a. 0. einführt, beweist, daß er in dem afrikanischen N. T. fehlte und ihn Tertullian aus gelehrter Über- lieferung kennen gelernt hat3. »Volo ex redundantia alicuius etiam comitis apostolorum testimonium superducere, idoneum confirmandi de proximo iure disciplinam magistrorum. extat enim et Barnabae titulus ad Hebraeos, a deo satis auctorati viri.« Doch weiß er, daß er in einigen Kirchen zum N. T. gerechnet wird. Es wird das eine Kunde aus dem Orient sein; aber speziell aus Alexandrien braucht sie nicht zu stammen. In de pud. 20 hat er ein ganzes Stück aus Hebr. 6 mitgeteilt; aber sonst den Brief wenig benutzt4. Für den eigentlichen Schriftbeweis kommt er niemals in Betracht.
1
Siehe meine Abhandlung über Tertullian in der Literatur der alten Kirche (Sitzungsber. 1895, 13. Juni).
2 »Receptior«
---- man sieht wiederum die Unbefangenheit, die sich daran nicht stößt, daß der Umfang der neuen Sammlung nicht in allen Kirchen derselbe ist.
3
Er will ihn auch nicht im Neuen Testament sehen; denn Barnabas ist ihm kein Apostel.
4
Von den bei ROENSCH (a. a. O. S. 565 ff.) zusammengestellten Zitaten sind die meisten zu streichen, denn sie sind bloße Anklänge, die nichts beweisen, oder können auch auf die
ATlichen Stellen bezogen werden, die im Hebräerbrief zitiert sind.
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Am frappierendsten ist, daß die erst kürzlich entstandenen »Acta Pauli« aus Kleinasien nach Karthago gekommen sind, und zwar nicht nur zu dem Gelehrten, Tertullian, sondern auch zur Gemeinde, und daß manche Gemeindeglieder (wie viele?) sie, durch den Titel verführt, für eine zuverlässige Schrift erachtet und sich auf sie in einer wichtigen Frage berufen haben. Hier ist Tertullian aber der Kritische. Er schreibt (de bapt. l7)1: »Quodsi qui Pauli perperam inscripta legunt, exemplum Theclae ad licentiam mulierum docendi tingendique defendunt, sciant in Asia presbyterum, qui eam scripturam construxit. quasi titulo Pauli de suo cumulans, convictum atque confessum, id se amore Pauli fecisse, loco decessisse.« Diese Worte machen den Eindruck, daß Tertullian selbst Kunde über den Ursprung dieser Schrift eingezogen und die intime Mitteilung aus der Gemeinde erhalten hat, in welcher sich dieser in der Geschichte der gefälschten christlichen Literatur einzigartige Fall abgespielt hat2. Ob diese falschen Paulus- akten, sei es vollständig, sei es teilweise, sofort ins Lateinische über- setzt worden sind, läßt sich nicht sicher ermitteln; aber unwahr- scheinlich ist es nicht, daß die Theklageschichte, die das größte Interesse erregen mußte, sehr bald den lateinischen Christen darge- boten worden ist3.
Abgesehen von dem, was man aus dem N. T. über das aposto- lische Zeitalter erfahren konnte, weiß Tertullian fast nichts von dem- selben; denn daß er keine Acta Pilati gekannt (Apol. 21), vielmehr was er von ihnen sagt, aus Justins Apologie entnommen hat, glaube ich (Altchristi. Lit.-Gesch. II, 1, S. 603 ff.) ausreichend bewiesen zu haben. (Über die Tiberiuslegende s. u.)
Tertullian weiß, daß Petrus und Paulus zu Rom unter Nero Märtyrer geworden sind, und zwar Petrus durch Kreuzigung, Pau- lus durchs Schwert (Apol. 21; de praescr. 36; adv. Marc. IV, 5;
1
Siehe die Wiederherstellung des verderbten Textes bei ZAHN, Kanonsgesch. II, S. 892.
2
Mit Kleinasien hat Tertullian als Montanist sicherlich Fühlung gehabt. Dort sind wohl auch die »Konzilien« zu suchen, die über den »Hirten« abgeurteilt haben (s. o.)
---- denn damals gab es wahrscheinlich außerhalb Kleinasiens nur erst wenige Konzilien. De ieiun. 13 liest man: »Aguntur praeterea per Graecias illa certis in locis concilia ex universis ecclesiis, per quae altiora quaeque in commune tractantur, et ipsa repraesentatio totius nominis Christiani magna veneratione celebratur.« Ob ihm förmliche Konzilsprotokolle zugegangen sind, läßt sich nicht ausmachen. Die Schrift ad Scapulani beweist, daß er Mitteilungen aus verschiedenen Kirchen erhalten hat und hervorragende Ereignisse aus verschiedenen Provinzen in bezug auf Christen- prozesse kennt; aber über die Formen, in denen ihm bez. seinen Gewährsmännern solche Mitteilungen zugegangen sind, wissen wir nichts.
3
Siehe über die lateinischen Thekla-Akten v. GEBHARDT i. d. Texten u. Unters. Bd. XXII. 2.
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Gesammtsitzung vom 19. Februar 1914.
Scorp. 15)1. Diese Nachricht kann auf einer schriftlichen Quelle beruhen2, braucht es aber nicht; denn der Märtyrertod der beiden Apostel wurde zur Zeit Tertullians überall in den Kirchen erzählt. Von dem Apostel Johannes weiß er, daß er »ein Verschnittener um Christi willen« war (de monog. 17), und daß er in Rom, ohne Schaden zu nehmen, in siedendes Öl getaucht worden sei (de praescr. 36)3. Das kann aus Johannesakten genommen sein; aber notwendig ist diese Annahme nicht. Auch hier kann man, zumal bei der zweiten Nachricht, an eine römische Lokaltradition denken; Tertullian ist ja längere Zeit in Rom gewesen4. Die erste Aussage ist wohl sehr bald aus der Apokalypse abstrahiert worden, sofern sie nicht Überlieferung ist.
Andere eigentümliche Nachrichten über das apostolische Zeitalter bietet Tertullian nicht5.
§ 3. Montanistische Aufzeichnungen und Gegenschriften.
Für Tertullian, den Montanisten, hatten die Orakelsprüche der phrygischen Propheten den Wert von heiligen Schriften6, und er unterläßt es nicht, sich in bezug auf die Lehre und die Disziplin auf sie wie auf jene zu berufen. Diese seine Zitate der montanisti- schen Sprüche sind öfters zusammengestellt worden7. Man muß an- nehmen, daß die Sprüche auch in einer besonderen Sammlung in Karthago bzw. Rom zugänglich waren, die zugleich eine gewisse Ko-
1
Wenn hier auch steht: »Petrus caeditur«, so ist schon deshalb auf keine be- sondere Quelle zu schließen, weil Tertullian hier den Inhalt der Acta Ap. angibt. Er hat sich einfach geirrt.
2
Auf einer solchen aber beruht schwerlich die Mitteilung, Petrus habe im Tiber getauft (de bapt. 4); sie ist einfach eine Folgerung.
3
De anima 50 wird bemerkt, daß Johannes eines natürlichen Todes gestorben sei (das ergab sich aus Joh. 21; s. Irenäus).
4 Persönliche Beziehungen zu Rom und der römischen Gemeinde gehen durch mehrere Schriften Tertullians. Dennoch vermögen wir weder die Mitteilung des Eu- sebius (h. e. II, 12), noch die wohl aus dem verlorenen Werk Tertullians
Περὶ ἓκστάσεως stammende Angabe des Hieronymus (de vir. inl. 53: »Tertullianus, usque ad mediain aetatem presbyter ecclesiae, invidia postea et contumeliis clericorum Romanae eccle- siae ad Montani dogma delapsus«) in ein helles Licht zu rücken.
5
Wenn er adv. Marc. IV, 5 schreibt: »Habemus et Joannis alumnas ecclesias; nam etsi Apocalypsin eius Marcion respuit, ordo tarnen episcoporum ad originem recensus in Joannem stabit auctorem«, so wird schwerlich jemand darin eine wirkliche Überlieferung erblicken wollen.
6
Vgl. auch das Proömium zu den Acta Perpet. et Felic.: »Prophetias et visiones novas .... ad instrumentum ecclesiae deputamus .... necessario et digerimus et ad gloriam dei lectione celebramus.«
7
Vgl. BONWETSCH, Geschichte des Montanismus, 1881 und meine Altchristi. Lit.-Gesch. I, S. 238 f.
HARNACK: Tertullians Bibliothek christlicher Schriften.
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difikation montanistischer Gebräuche enthielt1; denn Tertullian schreibt de ieiun. 11: »Omnia autem ista credo ignota eis qui ad nostra [scil, paracletica Montanistarum instituta] turbantur aut sola forsitan lectione non etiam intentione comperta, secundum maiorem vim im- peritorum apud gloriosissimam scil, multitudinem psychicorum«2. Ein- mal hat auch Tertullian auf die Acta Perpetuae et Felicitatis, die uns zum Glück noch erhalten sind, und die montanistisches Gepräge tragen3, angespielt, nämlich de anima 55: »Quomodo Perpetua for- tissima martyr sub die passionis in revelatione paradisi solos illic commartyres suos vidit, nisi quia nullis romphaea paradisi ianitrix cedit nisi qui in Christo decesserint, non in Adam.« Endlich teilt uns Hieronymus mit, daß Tertullian im 7. Buch des verlorenen Werks »de
ecstasi« sich mit der antimontanistischen Schrift des Kleinasiaten Apollonius polemisch auseinandergesetzt habe (de vir. inl. 40, 53). Dieses uns aus Eusebius bekannte Werk war also nach Karthago ge- kommen.
§4. Gottesdienstliches.
An zahlreichen Stellen (s. z. B. Apol. 30. 39; de spect. 4. 24. 25; de cultu I, 2; de orat. 27. 28; de coron. 3. 13; de idol. 6. 18; de bapt. 2. 6----8 usw.; de praesc. 13; de virg. vel. i ; adv. Prax 2; de anima 35 usw.) spielt Tertullian auf die ständigen gottesdienstlichen Formeln, liturgischen Worte (besonders bei der Taufe) und das Symbol an oder gibt sie wörtlich wieder. Aber nirgendwo hat man den Ein- druck, daß er schriftlich Fixiertes hier zur Unterlage hat4. Daher muß dieses ganze Gebiet für uns ausscheiden5.
1
Die Sammlung wird in griechischer Sprache vorhanden gewesen sein (doch mag es auch eine lateinische Übersetzung gegeben haben); denn Tertullian entnimmt ihr griechische Stichworte, s. z.B. de ieiun. 12.13:
ταπεινοφρόνησις.
2
Die Prophetie ging in den montanistischen Gemeinden auch nach Montanus, Maximilla und Priszilla noch fort, aber ob ihre Hervorbringungen samt den neuen »Psalmen« niedergeschrieben worden sind, steht dahin. Siehe de anima 9: »Nam quia spiritualia charismata agnoscimus, post
Ioannem quoque prophetiam meruimus consequi. est hodie soror apud nos revelationum charismata sortita, quas in ecclesia inter do- minica sollemnia per ecstasin in spiritu patitur« usw., und adv. Marc. V, 8: »Exhibeat Marcion dei sui dona, aliquos prophetas . .. edat aliquem psalmum,
aliquam visionem, aliquam orationem« usw.
3
Sie sind höchstwahrscheinlich von Tertullian selbst bevorwortet und komponiert.
4
Es ist aber auch unwahrscheinlich, daß damals überhaupt schon etwas schriftlich Fixiertes auf diesem Gebiete existiert hat, ausgenommen die »Didache«.
5 Wie bei den montanistischen Psalmen muß es bei den kirchlichen Psalmen und Hymnen (auf solche spielt Tertullian auch an) mindestens dahingestellt bleiben, ob sie bereits niedergeschrieben waren. Anders steht es bei gewissen gnostischen Psalmen (s. u.).
---- Daß es in der Kirche auch schon Gesänge gab, welche die Mär- tyrer verherrlichten, zeigt Scorp. 7, wo Tertullian zu Prov. i, 20 (»Sophia in exitibus cantatur hymnis«) bemerkt: »cantatur enim et exitus martyrum.«
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§5. Apologetische Literatur.
Nicht nur Tertullian, der Apologet, sondern auch Tertullian, der christliche Dogmatiker, hat die Grundlagen vieler seiner christlichen Erkenntnisse, so originell und bedeutend er sie auch ausgebaut hat, den älteren griechischen Apologeten zu verdanken1. Im ersten Bande meines Lehrbuchs der Dogmengeschichte habe ich das dargelegt, und in derselben Richtung bewegen sich die trefflichen kurzen Aus- führungen GEFFCKENS2 und HEINZES3. Tertullians schuldigen Dank gegenüber den griechischen Apologeten vermißt man, wie üblich. Den Justin, dem er am meisten verpflichtet ist, hat er einmal genannt, aber nicht als Apologeten, sondern als Antignostiker (s. u. § 6), und was er ihm schuldig ist, kommt auch dort nur in einem allgemeinen Satze zum Ausdruck. Die übrigen hat er überhaupt nicht erwähnt, sondern sie nur einmal in einer Gruppe zusammengefaßt und ihre Schriften so charakterisiert, daß er von der Bedeutung, die sie für ihn gehabt haben, kaum etwas ahnen läßt. De testim. anim. 1 schreibt er: »Nonnulli quidem, quibus de pristina litteratura et curiositatis labor et memoriae tenor perseveravit, ad eum modum opuscula penes nos condiderunt, commemorantes et testificantes in singula rationem et originem traditionum et sententiarum argumenta, per quae re- cognosci possit nihil nos aut novum aut portentosum suscepisse, de quo non etiam communes et publicae litterae4 ad suffragium nobis patrocinentur, si quid aut erroris eiecimus aut aequitatis admisimus.« Unter diesen «opuscula« können nur die Schriften griechischer Apo- logeten des Christentums verstanden sein.
Daß Tertullian die Apologie Justins gelesen hat, läßt sich zunächst an zwei Einzelheiten sicher nachweisen. Er erzählt, daß die Römer »Simonem Magum statua et inscriptione Sancti Dei inauguraverunt« (Apol. 13), und er hat das wichtigste Kapitel seines Apologetikums, das
21. ---- die erste Darlegung der christlichen Lehre in lateinischer Sprache ----, mitsamt den Verweisungen auf angebliche Pilatusakten
1
Daß des Minucius Felix »Octavius« nicht zu den Quellen Tertullians gehört, sondern umgekehrt von Tertullian abhängig ist, ist durch meine und HEINZES Nach- weise sichergestellt.
2
»Zwei griechische Apologeten« 1907, S. 282----286.
3
»Tertullians Apologeticum« 1910, Einleitung u. sonst.
4
Vgl. dazu de idol. 10. Hier gibt Tertullian zu, daß man die heidnischen »litterae« als Christ zwar nicht lehren dürfe, aber lernen müsse. Er weist den Einwurf nicht zurück: »Quomodo quis institueretur ad prudentiam interim humanam vel ad quemcumque sensum vel actum, cum instrumentum sit ad omnem
vitam litte- ratura?« Und er selbst sagt rund: »Christiano necessitas ad excusationem deputatur, quia aliter discere non potest.« Ein auf dem Standpunkt Tertullians beachtens- wertes Zugeständnis.
HARNACK: Tertullians Bibliothek christlicher Schriften.
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ganz mit Justinischen Mitteln entworfen1. Steht das fest, so ist man berechtigt, bei den zahlreichen sachlichen Übereinstimmungen in dem apologetischen Material, in der apologetischen Methode, in der Ver- wertung des A. T.s als Beweisinstrument, in der Beurteilung der heidnischen Philosophen und Dichter als Plagiatoren2, in der Dä- monenlehre, in der Gottes- und Logoslehre, in der Auferstehungslehre usw. sich immer zu erinnern, daß Tertullian den Justin gelesen hat. Eine Untersuchung, welche einzelne Gedanken er hier Justin, bzw. ausschließlich Justin, verdankt, wird niemals zum Ziele führen, da Tertullian, wie er selbst sagt (s. o.), mehrere apologetische Schriften gekannt hat und diese alle unter sich blutsverwandt sind. Aber daß die Ausführung über die Befehdung des »nomen Christianum« (Apol.
2 und ad nat. I, 3) von Justin, Apol. I, 4, über die empörenden Vor- würfe gegen die Christen, widernatürliche Verbrechen betreffend (Apol. 7), von Justin, Dial. 10, daß ferner Apol.
22 (47) von Justin I, 54, Apol. 23 von Justin I, 18, Apol. 27 von Justin I, 5, Apol. 38 von Justin I,
9 und Apol. 45 von Justin I,
12 abhängig ist ---- und zwar zum Teil wörtlich ---- ist evident.
In dieser Zusammenstellung ist bereits auch der Dialog des Justin mit Trypho genannt. Daß Tertullian auch ihn gekannt, ja sorgfältig gelesen und namentlich für adv. Marc. III und adv. Jud. verwertet hat (aber auch für einige Ausführungen in anderen Schriften), zeigen die, wenn auch zu sichtenden, Nachweisungen OTTOS in seinem Kom- mentar zum Dialog c. 10. 12. 16. 19. 29. 31. 33----35. 40. 51. 61. 73. 75. 77. 78. 83. 84. 87. 89----91. 94. 97. 100. 102. 103. 106. 110. 113. Man darf sagen, daß die ganze Konzeption Tertullians in bezug auf die messianische Polemik gegen das Judentum Plagiat nach Justins Dialog ist. Selbst wörtliche Übereinstimmungen finden sich hier und in anderen Parallelen3. Hier wie bei der Benutzung der Justinischen Apologie nehmen sich freilich die Justinischen Aus- führungen neben den Tertullianischen wie Schamaden neben Fanfaren aus; aber die Schamaden haben die Fanfaren erst ermöglicht.
1
Den Nachweis s. in meiner Altchristl. Lit.-Gesch. II, l, S.
603ff. Damit er- ledigen sich auch die famosen Pilatusakten als Tertullianisches Problem. Er hat sie aus Justin (s. o.). Originales bleibt dennoch genug übrig.
2
Siehe Apol. 47: »Divina litteratura thesaurus fuit posteriori cuique sententiae ... Quis poetarum, quis sophistarum, qui non omnino de prophetarum fönte pota- verit? inde igitur et philosophi sitim ingenii sui rigaverunt.« Dazu für den reichen Inhalt der Heiligen Schrift de spect. (Schluß).
3 Man beachte z. B., daß Tertullian in bezug auf die widernatürlichen Ver- brechen, die man den Christen vorwirft, sagt (Apol.8): »ut fidem naturae ipsius appellem adversus eos qui talia credenda esse praesumunt«, Justin aber
(Dial. 10): ου πιστευσα αξιον. πορρω γαρ κεχωρηκε της ανθρωπινης φυσεως.
Sitzungsberichte 1914.
(3)
320
Gesammtsitzung vom 19. Februar 1914.
Was die Kenntnis anderer Apologien bei Tertullian betrifft, so steht die Benutzung Tatians fest1. Ich habe ausführlich über sie (Texte und Unters, I, 1, S. 220 ff., vgl. Altchristi. Lit.-Gesch.I, S. 487 f.) gehandelt und brauche dem nichts hinzuzufügen; nur die Hypothese, Tertullian habe neben seiner Benutzung Tatians auch noch eine Quelle mit ihm gemeinsam gehabt (in Apol. 46 vgl. mit Tatian 2), ist mir zweifelhafter geworden. Für die Logoslehre, namentlich aber für die Chronologie, ist Tertullian dem Tatian verpflichtet.
Daß Tertullian den wenig gelesenen Athenagoras gekannt hat, läßt sich nicht erweisen. Die Berührungen bestehen in Gemeinplätzen, und auch die Beurteilung der zweiten Ehe (de exhort. 9): »stupri affine esse secundum matrimonium«, braucht keineswegs auf Athenag., Suppl. 33
(ευπρεπης μοιχεια) zurückzugehen.
Werke des Theophilus sind ins Abendland gekommen und dem Laktanz bekannt gewesen (Inst. div. I, 23); als Chronograph hat er Bedeutung erlangt (Laktanz hat ihn auch sonst benutzt). Sicher hat schon Irenäus ihn gekannt; aber daß Tertullian die Bücher ad Autolycum gelesen hat (über seine Bekanntschaft mit dem Buch des Theophilus gegen Hermogenes s. u.), ist nicht zu beweisen, wenn auch manches für diese Annahme
spricht2.
Dem Justin und Tatian ist Tertullian verpflichtet; jenem verdankt er mehr, diesem ist er in der Stimmung verwandter.
§ 6. Antignostische und gnostische Literatur.
In allen seinen Werken verweist Tertullian nur einmal mit Namen auf eine Gruppe von Vorgängern, an deren Schriften er sich gehalten hat, nämlich in dem um das Jahr 207/8 verfaßten Traktat adv. Valent. 5.
Nachdem er in c. 1----4 dieser Schrift eine allgemeine Charakte- ristik der valentinianischen Sekte und ihrer Verzweigungen gegeben hat, fährt er fort: »Mihi autem cum archetypis erit limes principalium magistrorum, non cum adfectatis ducibus passivorum discipulorum. nec undique dicemur ipsi nobis finxisse inaterias, quas tot iam viri sanctitate et praestantia insignes, nee solum nostri antecessores, sed
1
Als Häretiker hat Tert. den Tatian in de ieiun. 15 genannt; s. unten § 6.
2
Siehe Texte und Unters. I, 1. S. 297; meine Altchristi. Lit.-Gesch. I, S. 502. ----
Die chronographischen Partien bei Tertullian (Apol. 19; adv. Iud. 8) sind un- bedeutend, in bezug auf ihre Quellen aber noch nicht genügend erforscht. Die interessanteste chronologische Angabe bei Tertullian steht in de monog. 3, daß seit dem ersten Korintherbrief des Paulus etwa 160 Jahre verflossen seien (»annis circiter CLX exinde productis«). Das ist eine überraschend genaue und richtige Bemerkung, die schwerlich aus einer Quelle stammt, sondern von Tertullian selbst herrührt. Sie beweist, daß er sich ein chronologisches Bild vom apostolischen Zeitalter gemacht hat-
HARNACK: Tertullians Bibliothek christlicher Schriften.
321
ipsorum haeresiarcharum contemporales, instructissimis voluminibus et
prodiderunt et retuderunt, ut
Justinus, philosophus et martyr1, ut
Miltiades, ecclesiarum sophista2, ut
Irenaeus, omnium doctrinarum curiosissimus explorator3, ut
Proculus noster4, virginis senectae et Christianae eloquentiae
ut
dignitas, quos in omni opere fidei, quemadmodum in isto,
optaverim assequi«.
Von diesen vier Werken5, denen gefolgt zu sein hier Tertullian bekennt, besitzen wir nur das dritte, das Werk des Irenäus. Wir wissen von der Existenz des ersten (denn Justin verweist Apol.
I, 26 selbst auf sein älteres Werk »Das Syntagma gegen alle Häresien«). Dagegen bringt unsre Stelle das einzige Zeugnis, daß die beiden auch sonst bekannten christlichen Schriftsteller Miltiades und Prokulus6
---- in bezug auf die montanistische Kontroverse Antipoden ---- gegen die Häresien geschrieben haben. Da Tertullian nichts über den Umfang und Inhalt der beiden Werke sagt und sie auch sonst nicht zitiert, so läßt sich nicht mehr feststellen, was er ihnen entnommen hat und welche Häre- sien sie neben der valentinianischen noch bekämpft haben. Was er dem Justin verdankt, habe ich in meinen Untersuchungen «Zur Quellen- kritik der Geschichte des Gnostizismus«, 1873 (Fortsetzung in der Zeit- schrift für die histor. Theologie 1874), zu ermitteln versucht.
Es ist ein Beweis für die Bedeutung der gnostischen Bewegung, daß die Kirche bereits um das Jahr 200 mindestens vier große ketzer- bestreitende Werke besaß. Sehr bald schloß sich ihnen das Syntagma des Hippolyt gegen 32 Häresien als fünftes an, von welchem aber Tertullian noch keine Notiz genommen hat. Das sechste sind die sogenannten Philosophumena des Hippolyt.
Was sich über die Benutzung häretischer und antihäretischer Literatur feststellen läßt, soll im folgenden zusammengefaßt werden.
Bereits im Apologetikum ist Tertullian (c.13. 47) beiläufig auf Simon Magus und die Gnostiker eingegangen
---- ein neuer Beweis seiner Abhängigkeit von Justins Apologie; denn schon dieser hatte
1
Über Justin war also mit den Werken eine kirchliche Tradition zu Tert. gekommen.
2
Miltiades (s. meine Altchristi. Lit.-Gesch. l, S. 144. 239f. 255) war Anti- montanist; daher der etwas zweideutige Ausdruck, mit dem er beehrt wird; denn die »Kirchen« sind nicht »die Kirche«, und »sophista« ist nur ein halbes Lob.
3
Im Apologetikum c. 5 heißt der Kaiser Hadrian »omnium curiositatum ex- plorator«. Auch Marcion empfängt den Titel: »diligentissimus explorator.« Augen- scheinlich erschien Irenäus dem Tertullian als der gelehrteste Ketzerbestreiter.
4
Prokulus war wie Tertullian Montanist; daher das »noster«.
5
Das »tot iam viri« erschöpft sich wohl in den vier Vorgängern trotz des »ut«.
6 Siehe für Prokulus meine
Altchristl. Lit.-Gesch. I, S. 146. 600.
(3*)
322
Gesammtsitzung vom 19. Februar 1914.
es für nötig gefunden, in seiner Verteidigungsschrift vor den Heiden von den Häretikern abzurücken, und Tertullian hat ihm das nach- gemacht. Was er hier über sie bemerkt, ist so allgemein, daß Quellen dafür nicht in Betracht kommen. Wohl aber gewahrt man, daß Ter- tullian den Präskriptionsbeweis gegen die Häretiker schon im Kopfe hat1, und in der Tat ist das Buch de praescriptione haereticorum sehr bald dem Apologetikum gefolgt.
Dieser Traktat verdankt seinen Ursprung augenscheinlich dem Eindruck, den das große Werk des Irenäus (daneben vielleicht auch die ändern ketzerbestreitenden griechischen Werke, die in adv. Val. 5 genannt sind2) auf Tertullian gemacht hat. Tertullian verhält sich in . de praescr.
---- den Hauptgedanken des Werks betreffend ---- zu Irenäus (Buch I und III init.); wie er sich im Apologetikum zu Justin verhält. Der Präskriptionsbeweis fußt auf Ausführungen über die Tradition und über die Heilige Schrift und die Tradition, die zuerst Irenäus gegeben hat, aber gestaltet sie viel eindrucksvoller3. Auch die An- kündigung am Schluß des Werks: »Sed nunc quidem generaliter actum est nobis adversus haereses omnes4 certis et iustis et necessariis praescriptionibus repellendas a conlatione scripturarum. de reliquo, si dei gratia adnuerit, etiam specialiter quibusdam respondebimus«, wäre Tertullian wohl nicht möglich gewesen, wenn er nicht bereits zu-
sammenfassende Darstellungen zur Hand gehabt hätte; denn wie sollte
er in Karthago imstande gewesen sein, sich einen Überblick über alle
Häresien zu verschaffen?
Da die Schrift de praescr. nur allgemeine Grundsätze in bezug
auf die Bestreitung der Ketzer geben will, so kommt er hier nur bei- läufig auf einzelne Häretiker und ihre Lehren zu sprechen (vgl. 6. 7. 10. 33. 34. 37. 38. 42). Im Vordergrund stehen ihm Marcion und Valentin bzw. Marcion, Apelles und Valentin. Die übrigen haben für
1
Apol. 47 : »Vetus instrumentum ingenia philosophorum interverterunt. ex horum semine [aber Justin hat die Gnostiker aus den jüdischen Sekten abgeleitet; doch hat auch er die Verwandtschaft mit den griechischen Philosophen bemerkt] etiam nostram hanc novitiolam paraturam viri quidam suis opinionibus ad
philosophicas sententias adulteraverunt et de una via obliquos multos et inexplicabiles tramites sciderunt. quod ideo suggerimus, ne cui nota varietas sectae [scil, der Kirche] huius in hoc quoque nos philosophis adaequare videatur et ex varietate defectionem vindicet veri- tatis. expedite autem praescribimus adulteris nostris illam esse regulam veri- tatis quae veniat a Christo transmissa per comites ipsius, quibus aliquanto posteriores diversi isti commentatores probabuntur. omnia adversus veritatem de ipsa veritate constructa sunt, operantibus aemulationem istam spiritibus erroris .... nunquam corpus umbra aut veritatem imago praecedit.«
2
Nötig ist es nicht, schon bei de praescr. an sie zu denken.
3
Erst Tertullian hat den Ausführungen die Gestalt eines juristischen Beweises gegeben.
4
»Haereses omnes« ---- so auch Justin.
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ihn ein untergeordnetes bzw. ein nur lokales Interesse1. Das meiste von dem, was er über die beiden Haupthäretiker sagt, konnte er aus Irenäus schöpfen; aber daneben finden sich Angaben, die diesem nicht zu entnehmen waren. Daß Marcion ein »Ponticus nauclerus« war, daß er die Ehe verbietet, daß er und Valentin ursprünglich katholische Christen in Rom gewesen, daß sie erst nach mehrfacher Exkommunika- tion definitiv aus der Kirche ausgeschieden sind2, daß sie unter dem Epi- skopat des »benedictus Eleutherus [!]« noch katholische Christen waren3, daß Marcion einst der römischen Gemeinde 200000 Sesterzen geschenkt hat, endlich daß er am Ende seines Lebens Kirchenbuße getan und ihm dabei eine Bedingung auferlegt worden sei, vor deren Erledigung er gestorben sei
---- das alles war dem Irenäus nicht zu entnehmen. Woher es stammt, ist nicht zu ermitteln. Justin kommt höchstens für eine oder die andere Nachricht in Betracht; das Werk des Prokulus kann die Quelle sein, wenn nicht die eine oder andere Nachricht auf mündlicher Überlieferung (römischer Kirchenklatsch) beruht. Was Ter- tullian aber über Apelles berichtet, geht teils auf ein Werk des Apelles selbst zurück, das Tertullian eingesehen hat (s. u.), teils auch auf eine gehässige römische Quelle, die entweder eine mündliche war oder mit dem Werke des Prokulus identifiziert werden kann4.
Seine Zusage, die Häretiker einzeln zu bekämpfen, hat Tertullian in dem großen Werk adv. Marcionem und in den Schriften adv. Valen- tinianos, adv. Apelleiacos [verloren; aber aus einigen Zitaten Tertullians zum Teil erkennbar], adv. Hermogenem und de censu animae adv. Hermogenem, dazu in den dogmatisch-polemischen Werken de carne Christi, de anima, de resurrectione carnis und in dem Traktat Scorpiace eingelöst.
1
Letzteres gilt von den c. 30 genannten beiden Häretikern Nigidius und Her- mogenes. Der erstere ist uns überhaupt nur aus dieser Stelle bekannt; mit letzterem, einem zeitgenössischen Häretiker, hat sich Tertullian eingehend beschäftigt; s. u.
---- Von dem Häretiker Gaius hören wir nur c. 33 und de bapt. 1. Auch diese Häresie, »die heutigen Nikolaiten«, hat für Tertullian lokales Interesse; an eine schriftliche Quelle braucht hier nicht gedacht zu werden. Die Erwähnung von Simon und »Ebion« (c. 10. 33) stammt aus Buchgelehrsamkeit, also aus Justin bzw. Irenäus. Aber Ire- näus weiß noch von keinem "Ebion«, sondern nur von Ebioniten. Der «Ebion« mag schon einer griechischen Quelle seinen Ursprung verdanken und nicht von Tertullian selbst erfunden sein. In de virg. vel. 6 hat er den »Ebion« noch einmal erwähnt.
2
Das erinnert freilich in verdächtiger Weise an das, was Irenäus über Cerdo (III, 4, 2) sagt.
3
Der chronologische Irrtum ist so stark, daß, falls der Text in Ordnung ist, angenommen werden muß, daß Tertullian sich in seiner Quelle verlesen hat.
4
Die lebhafte Schilderung vom Tun und Treiben und der »Organisation« der Häretiker (c. 41 ff.) ist augenscheinlich nicht einer Quelle entnommen, sondern ent- stammt eigener Anschauung.
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Aus dem großen Werk gegen Marcion ergibt sich, daß Tertullian zur Hand hatte (1.) Marcions Neues Testament, (2.) seine »Antithesen«, ein Werk, welches in der marcionitischen Kirche kanonisches Ansehen (an Stelle des A. T.) genoß, nachdem ihm schon Marcion selbst maß- gebende Bedeutung beigelegt hatte, (3.) eine große Reihe von Erklärungen alt- und neutestamentlicher Stellen des Marcion und der Marcioniten sowie kanonsgeschichtlicher Äußerungen Marcions, die zum Teil in den Antithesen gestanden zu haben scheinen1, (4.) einen Brief des Marcion, in welchem er von seinem Austritt aus der Kirche gehandelt hat (adv. Marc. I, 1; IV, 4; de carne 2 ; de praesc. 30). Vielleicht stammt auch das, was Tertullian über den Syrer Cerdon, den Lehrer des Marcion, mitgeteilt hat (adv. Marc. I, 2. 22; III, 21; IV, 17) zum Teil aus Mar- cions Schriften (doch s. auch Iren. I, 27, 1). Ob Tertullian neben diesen Quellen auch eine griechische Streitschrift gegen Marcion (Theophilus?) benutzt hat, ist nicht auszumachen, aber manches spricht dafür2. Die Werke Marcions samt der Rezension des N. T. lagen dem Tertullian griechisch vor3; ob das marcionitische N. T. nicht aber auch schon in lateinischer Sprache in seinen Händen war, muß noch untersucht werden4.
In der Schrift adv. Valentinianos hat Tertullian in der Hauptsache das Werk des Irenäus
---- in vielen Abschnitten wörtlich ---- ausge- schrieben. Daß es ihm noch nicht lateinisch vorlag, sondern er es übersetzen mußte, habe ich (Altchristi. Lit.-Gesch. II, 2, S. 302----320) nachgewiesen. Neben seiner Hauptquelle zeigt sich Tertullian aus eigener Anschauung über das Tun und Treiben der Valentinianer
1 Die Untersuchungen hierüber bzw. über den Umfang des Antithesenwerkes sind noch nicht abgeschlossen, s. meine Altchristi. Lit.-Gesch. I, S. 195f. Bei der Untersuchung ist vor allem die Stelle adv. Marc. IV, 9 zu beachten: »sed quoniam (Marcion) adtentius argumentatur apud illum suum nescio
quem σονταλαίπωρον
(com- miseronem) et συμμισουμενον
(coodibilem) in leprosi purgatione etc.« (vgl. IV, 36: Mar- cion omnesque iam ,commiserones' et ,coodibiles' eins«). Wohin gehören diese Worte? Zu den Antithesen oder zu einem Kommentar oder zu einem Brief?
2
Ob die von Irenäus (I, 27) angekündigte Spezialschrift gegen Marcion wirk- lich von ihm verfaßt und ediert worden ist, ist unbekannt. Sie sollte nach der An- kündigung den Plan ausführen, den Tertullian verwirklicht hat.
---- Eine Streitschrift des Theophilus von Antiochien gegen Marcion kannte noch Eusebius (h. e. IV, 24). Da Theophilus auch gegen Hermogenes geschrieben und einiges dafür spricht, daß Tertullian diese Schrift gekannt hat (s. u.), da ein Werk des Theophilus dem Lak- tanz bekannt geworden ist (Inst. div. I, 23), da Irenäus wahrscheinlich die Schrift des Theophilus gegen Marcion gelesen hat, so ist es möglich, daß gewisse Partien des Tertullianischen Werks gegen Marcion, die mit orientalischer Polemik gegen gnostisch- marcionitische Gedanken sich decken, auf die Lektüre des Werks des Theophilus gegen Mareion zurückgehen (s. Texte u. Unters. I, 1, S. 292 ff.); aber auch nur einiger- maßen Wahrscheinliches ist hier nicht zu gewinnen.
3
Die Worte (s. o.) συνταλαιπωρος
und συμμισουμενον
sind Marcions Worte.
4
Vom Leben und der Geschichte Marcions weiß Tertullian außerordentlich wenig. Abgerissen ist die Notiz über Marcions »sanctiores feminae« (adv. Marc. V, 8).
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einigermaßen unterrichtet und bringt außerdem einige positive An- gaben über Valentin und seine Schüler, die er nicht dem Irenäus ver- dankt. Hierher gehört, was er (c. 4) über den Abfall Valentins von der Kirche aus gekränktem Ehrgeiz berichtet (aus Justin oder Miltiades oder Prokulus? oder römischer Kirchenklatsch?). Nur er kennt den Valentinianer Theotimus neben Kolarbasus, Ptolemäus, Herakleon, Se- kundus und Markus; nur er weiß, daß von allen Schülern nur Axio- nikus (er wird sonst nur noch von Hippolyt in den Philos. genannt) im fernen Antiochien die Lehre des Meisters streng festhält; auch sachlich bringt er c. 3 3 ff. allerlei über die Verschiedenheiten der Lehren innerhalb der Schule, was sonst unbekannt ist, und spricht c. 37 von einem »insignior apud eos magister, qui et [ex] pontificali sua aucto- ritate in hunc modum censuit«.
Was sich über die verlorene Schrift adv. Apelleiacos sagen läßt, habe ich in.meiner Dissertation (De Apellis gnosi monarchica, 1874) und »Altchristi. Lit.-Gesch.« I, S. 197 ff. zusammengestellt. Augen- scheinlich hat Tertullian von den »Phaneroseis« des Apelles (Auf- zeichnungen der visionären Prophetin Philumene, s. de praescr. 6. 30; adv. Marc. III, 9. 11 ; de carne 6
---- 9. 24; de anima 23. 36; de resurr. 5) Kenntnis genommen; dagegen erwähnt er die «Syllogismen« niemals, so daß es fraglich bleiben muß, ob er sie gekannt und in der ver- lorenen Schrift benutzt hat. Apelles, der römische Häretiker, steht dem Tertullian zeitlich näher als Marcion und Valentin, und Tertullian hat wohl auch mündliche Kunde über ihn gehabt1.
Gegen Hermogenes, den Maler und Theologen, der zur Zeit Ter- tullians in Afrika lebte, hat Tertullian zwei Schriften geschrieben, von denen uns der Traktat de censu animae adv. Hermogenem (s. de anima 1. 3. 11. 22. 24) nicht erhalten ist (zu der auf uns gekommenen Schrift adv. Hermog. vgl.auch adv.Valent. 16; de praescr. 30. 33; de monog.16)2. Es ergibt sich aus ihnen, daß Hermogenes eine Schrift über die Ewig- keit der Materie verfaßt hat, die Tertullian eingesehen und gründlich widerlegt hat. Gegen diesen Hermogenes hatte früher Theophilus in Antiochien eine eigene Schrift verfaßt (Euseb., h. e. IV, 24, 1). Daß
1
Auf die drei Häresiarchen Marcion, Valentin und Apelles bezieht es sich, wenn Tertullian (de praescr. 30) sagt: »Adhuc in saeculo supersunt qui meminerint eorum, etiam proprii discentes [= discipuli] et successores ipsorum.«
2
Siehe meine Altchristi. Lit.-Gesch. l, S. 200f.; II, 1 S. S34f.;
II, 2 S. 281 f. und in den Sitzungsber. 1895 S. 566 f. Daß der verlorenen Schrift der Verfasser des Prädestinatus (haer. 60) das entnommen hat, was er über den Häretiker Proklinus und seine Anhänger sagt, habe ich a. a. 0. S. 576 f. wahrscheinlich zu machen gesucht. Dieser Proklinus kommt freilich sonst unter den von Tertullian genannten Häretikern nicht vor. Woher Tertullian von ihm Kunde erhalten hat, wissen wir nicht, auch nicht, wo er zu suchen ist.
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Tertullian sie gekannt hat, hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit, ist aber nicht sicher1.
In den drei großen dogmatisch-polemischen Schriften de carne Christi, de anima und de resurr, hat sich Tertullian eingehend mit den betreffenden Lehren der drei Häresiarchen Marcion, Valentin und Apelles auseinandergesetzt. Er hat dabei in bezug auf die Valentini- aner noch mancherlei beigebracht, was in der Hauptschrift gegen sie fehlt2. Von Psalmen Valentins hat er de carne 17. 20 Kenntnis ge- nommen; aber er hat sie nicht selbst in der Hand gehabt, sondern in einer Schrift eines Valentinianers Alexander, der sonst nicht be- kannt ist, gefunden (de carne 15ff.). Diese Schrift hatte vielleicht den Titel »Συλλογισμοί«3, und es fand sich in ihr eine interessante Auslegung zu Rom. 8, 3 (»ut penes quendam ex Valentin! fatiuncula legi« .... »Alexander ille«) nebst einer besonderen Theorie über das Fleisch Christi.
In diesen drei Schriften geht Tertullian aber auch auf Lehren von Häretikern ein, die er sonst nirgends genannt hat, nämlich auf Lehren des Menander Samaritanus (de anima 50; de resurr. 5), des Saturnin, Schülers des Menander (de anima 23), des Karpokrates (de anima 23. 35), des Basilides (de resurr. 2) und des Marcus4 (Schülers des Valentin (de resurr. 5) und berücksichtigt auch Lehren des Simon und der Sirnonianer (de anima 34f. 57) und des »Ebion« (de carne 14. 18. 24)5. Daß er die betreffenden Originalschriften selbst gelesen hat, ist nirgends nahegelegt, vielmehr stimmt alles aus indirekter Über- lieferung (aus den Werken der griechischen Ketzerbestreiter)6.
1
Siehe Texte und Unters. I, 1 S. 292 ff.
2
So kennt er die kirchlich-valentianinische Kontroverse über διά
und ἐκ in bezug auf die Geburt aus der Jungfrau, de carne 20.
3
Nicht zu verwechseln mit den »Syllogismen« des Apelles. »Sed remisso Alexandro«, heißt es de carne 17, »cum suis syllogismis, quos in argumentationibus torquet, etiam cum psalmis Valentini, quos magna impudentia quasi idonei alicuius auctoris interserit«.
4
Doch ist dieser adv. Valent. 4 flüchtig erwähnt.
5
Der Marcionit Lukanus, der de resurr. 2 als selbständiger Schüler des Meisters genannt ist, ist Tertullian durch eine Schrift über die Seele bekannt geworden.
6 Das über Menander de anima 50 Mitgeteilte, scheint aus Irenäus I, 23, 4 ge- flossen zu sein, aber die Angabe, nach Menander sei der Leib eine Schöpfung der Engel (de resurr. 5) läßt sich nur zur Not aus dieser Quelle ableiten.
---- Das über die Lehren der Karpokratianer (de anima 23. 35) Ausgeführte darf mit größter Wahr- scheinlichkeit auf Irenäus I, 25 zurückgeführt werden. Dasselbe gilt, jedoch mit etwas geringerer Wahrscheinlichkeit, von der Wiedergabe einer Lehre des Saturnin (de anima 23 = Irenäus I, 24).
---- Die kurze Notiz (de resurr. 2), daß Basilides Doket sei wie Marcion, ist aus Irenäus I, 24 zu belegen; nicht ebenso sicher die Notiz über eine Lehre des Marcus (de resurr. 5), der Leib sei eine Schöpfung der Engel.
---- Das über Simon Magus de anima 34 Ausgeführte ist eine zum Teil wörtliche, durch einen ob- szönen Witz und einige andere Beigaben vermehrte Wiedergabe von Irenäus I, 23; aber
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An drei Stellen (Scorp. 1; adv. Valent. 30; de anima 18) unter- scheidet Tertullian von den Valentinianern eine Gruppe, die er »Gnostici« nennt. Er hält sie für schlimmer als die Valentinianer, weil ihre Lehren noch exotischer sind1. Diese »Gnostiker« hat er wahrscheinlich von Irenäus2 (schon von Justin?); es sind die großen bunten syrischen Sekten, ja vielleicht verstand Tertullian unter diesem Namen alle gnostischen Häretiker außer den Marcioniten und Valentinianern. Auf sie näher einzugehen, hat Tertullian sich versagt. Es war schon schwer genug, die valentinianischen Lehren aus dem Griechischen ins Lateinische zu übertragen, und für Afrika waren jene Gnostiker gefahrlos.
Mit den Valentinianern sind Scorp. 15 und adv. Prax. 3 Anhänger eines gewissen Prodikus zusammengestellt, die auch Clemens Alex, kennt und die u. a. die Flucht bei drohendem Martyrium gestattet und verteidigt haben. Eine Schrift, die solche Verteidigung enthielt, hat Tertullian, wie der Traktat Scorpiace ausweist, gelesen, und man vermag Teile dieser Schrift noch zu rekonstruieren.
In einer seiner spätesten Schriften, wenn nicht der letzten, die uns erhalten ist
---- de ieiunio 15 ---- erwähnt Tertullian neben Marcion als Häretiker, welche prinzipielle Abstinenz lehren, den Tatian und den Jovis (»hodierum de Pythagora haereticum«). Von Tatian als
der Satz de anima 57 : »Ecce hodie eiusdem Simonis haereticos tanta praesumptio artis extollit, ut etiam prophetarum animas ab inferis movere se spondeant«, ist nicht aus Irenäus zu belegen. Doch sind vielleicht nicht spezielle Simonschüler gemeint, sondern andere gnostische Häretiker, die ja sämtlich von den Kirchenvätern als »Simonis haeretici« bezeichnet werden.
---- Daß »Ebion« Jesus für einen »nudum hominem et tantum ex semine' David, i. e. non et dei filium constituit, plane prophetis aliquo glo- riosiorem, ut ita in illo angelum fuisse edicat quemadmodum in Zacharia« (de carne 14), steht nicht, bei Irenäus, auch nicht daß nach »Ebion« Jesus »nihil amplius Salomone et Jona« gehabt habe (de carne 18). Als eine ernste Möglichkeit muß daher offen ge- lassen werden, daß auch das, was dem Tertullian mit Irenäus gemeinsam ist, mindestens zum Teil aus der gemeinsamen Quelle
---- denn Irenäus geht an jenen Stellen auf eine Quelle zurück ---- geflossen ist (aus Justin). Es läßt sich aber leider nicht mit Sicherheit feststellen, was Tertullian dem ketzerbestreitenden Werk des Justin verdankt und noch weniger, was er den Werken des Miltiades und Prokulus entnommen hat.
---- Gnostische Originalschriften (»apocrypha«, s. o. § 2 init.) kannte Tertullian, wie sich ergeben hat, nur in sehr geringer Zahl
---- abgesehen von den Schriften des Marcion und seiner Schüler. Daß das Evangelium Marcions noch fort und fort Veränderungen erleide, behauptet er (adv. Marc. I V, 5): »cotidie discipuli Marcionis evangelium reformant, prout a nobis cotidie revincuntur.« Daß er verschiedene Evangelienexemplare der Marcioniten eingesehen hat, wird man daraus nicht mit Sicherheit schließen dürfen, Avohl aber daß auch in Afrika der Kampf mit dem Marcionitismus akut war.
1
Scorp. i: »Cum fides aestuat et ecclesia exuritur de figura rubi, tunc Gnostici erumpunt, tunc Valentiniani proserpunt.« Adv. Valent. 30: »Atque ita inolescentes doctrinae Valentinianorum in silvas iam exoleverunt Gnosti corum.« De anima 18: »Relucentne iam haeretica semina Gnosticorum et Valentinianorum?«
2 Iren. I,
11, 1: ὁ πρῶτος ἀπὸ τῆς λεγομένης γνωστικῆς αιρέσεως. III, 4, 3: »re- liqui qui vocantur Gnostici.« Hippol., Philos. VII, 36.
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(4)
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Asketen hat er bei Irenäus (I, 28) gelesen; welche Bewandtnis es mit dem in der ganzen altchristlichen Literatur nur hier genannten Jovis hat, und ob Tertullian eine Schrift von ihm gekannt hat, ist nicht auszumachen. Vielleicht lebte Jovis in Karthago.
Endlich ist zu beachten, daß Tertullian den bedeutenden kleinasia- tischen Theologen Melito, Bischof von Sardes, den Gesinnungsgenossen des Irenäus, zwar in den uns erhaltenen Schriften niemals genannt, daß er ihn aber in der verlorenen Schrift de ecstasi (11. VII) nach dem Zeugnis des Hieronymus erwähnt und verspottet hat (de vir. inl. 24): »Melitonis elegans et declamatorium Ingenium in septem libris, quos scripsit ad- versus ecclesiam pro Montano, cavillatur dicens eum a plerisque nostro- rum prophetam putari«. Tertullian hat also mindestens eine (anti- montanistische?), vielleicht aber mehrere Schriften dieses fruchtbaren Schriftstellers und katholischen Propheten gekannt. Obgleich er ihn (weil er Antimontanist war) verhöhnt hat, so besteht doch eine große Verwandtschaft zwischen beiden Männern als Theologen und als Schrift- steller. Ich habe die gemeinsamen Züge (Texte u. Unters. I, 1, S. 240 bis 278)1 zusammengestellt, und es ist mir sehr wahrscheinlich, daß Tertullian dem Melito manches, wenn nicht vieles, an theologischen Konzeptionen verdankt. Überhaupt darf man es als gewiß ansehen, daß manche Gedanken, die uns zuerst bei Tertullian entgegentreten, nicht sein geistiges Eigentum im vollen Sinne des Worts sind. Sie zeigen schon die zweite und dritte Stufe der Entwicklung, und es ist wenig glaublich, daß ein Mann eine solche Fülle von Gedanken und Formeln ganz selbständig produziert hat2. Anderseits ist es höchst beachtens- wert, daß die tiefsinnigen und breit ausgeführten theologi- schen Grundgedanken des Irenäus (Buch II----V) auf Tertullian
1
Siehe auch Altchristi. Lit.-Gesch. I, S. 246 ff.
2
Zwischen Tertullian aber und Alexandrien hat schlechterdings keine Beziehung bestanden (gegen NOELDECHEN). Wie Clemens Alex, nichts vom abendländischen Christen- tum weiß, so Tertullian nichts vom alexandrinischen. Die Meinung, die er de resurr. 7 ablehnt, die »Felle« im Paradies seien der Leib gewesen, ist nicht nur alexandrinisch, sondern auch gnostisch. Aus dem Satze (Apol. 40): »Si Tiberis ascendit in moenia, si Nilus non ascendit in rura .... statim: ,Christianos ad leonem' inclamant«, positive Schlüsse auf eine Kunde von ägyptischen Christen her schließen zu wollen, wäre sehr kühn, noch kühner freilich, diese Kunde darauf zu begründen, was Apol. 18 über das Serapeum gesagt ist. In adv. Prax. 5 heißt es: »Aiunt quidam [al.: »quidem«] et Genesim in Hebraico
---- er selbst weiß also vom hebräischen Grundtext nichts ---- ita incipere: ,In principio deus fecit filium'.« Diese irrtümliche Ansicht kommt auch sonst vor; sie weist keineswegs notwendig auf Alexandrien. Aber wer sind die »qui- dam«? Es ist nicht ausgeschlossen, daß Tertullian die »Altercatio Jasonis et Papisci« (s. über sie Texte und Unters. 1, 1, S. 117) gekannt hat, in welcher nach dem Zeugnis des Hieronymus (Quaest. hebr. in libro Genes, p. 3) sich jenes »in filio fecit deus coelum et terram« fand. Andere Beobachtungen, die diese Hypothese stützen, Ter- tullian habe die »Altercatio« gekannt, s. Texte und Unters. I, 1, S. 126 ff. ,
HARNACK: Tertullians Bibliothek christlicher Schriften.
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gar keinen Eindruck gemacht haben. Nur als »omnium doctri- narum haereticarum curiosissimus explorator« und als Begründer des Traditionsbeweises hat Irenäus auf Tertullian einen Einfluß ausgeübt. Der platonisch-paulinischen Gnosis und Mystik des Bischofs von Lyon steht er ebenso verständnislos gegenüber, wie der Gnosis überhaupt, und hält einfach an seiner auf ratio und autoritas gegründeten, durch Dämo- nologie und Erlösungslehre modifizierten, stoischen Theologie fest. Er ist trotz seiner »Bibliothek« und seiner Abhängigkeit von Justin immer er selbst geblieben.
§ 7. Varia.
Der Versuch, für die Auslegung des Vaterunsers (de orat.) eine Quelle nachzuweisen (LOESCHCKE), ist m. E. nicht geglückt.
Dem Traktat de pudicitia liegt neben der schriftlichen Erklärung eines römischen Bischofs (Kailist; neuerlichst ist wieder Zephyrin hier genannt worden), schwere Fleischessünden zu vergeben, auch eine römische Schrift zugrunde, welche diese Bereitschaft ausführlich ver- teidigt und gegen die Tertullian streitet; siehe die Rekonstruktion dieser Schrift von ROLFFS, Das Indulgenzedikt des römischen Bischofs Kailist (Texte und Unters. XI, 3, 1893). Derselbe Gelehrte hat ver- sucht (a.a.O. XII, 4, 1895: Urkunden aus dem antimontanistischen Kampfe des Abendlands), auch noch andere römische Schriften, gegen die Tertullian polemisiert hat, zu ermitteln (aus de monog. und de ieiunio). Es ist ihm darin beizustimmen, daß ein Teil der von Ter- tullian bekämpften Argumente der »Laxen« diesem schriftlich vorge- legen hat; aber leider sind Rekonstruktionen hier nicht möglich, weil das mündlich und schriftlich Geäußerte sich nicht scheiden läßt.
Ein Vergleich der Schrift Tertullians adv. Praxean mit dem Traktat Hippolyts gegen Noetus legt die Annahme einer gemeinsamen mon- archianischen Quelle nahe, ohne sie zu fordern1. In derselben Schrift (c. 1) ist von bereits erlassenen Friedensbriefen des römischen Bischofs zugunsten der Montanisten die Rede, die aber von ihm widerrufen worden seien, ferner von einem handschriftlichen Dokument des Praxeas . (a.a.O.), das in den Händen der »Psychiker« (d.h. der Katholiken in Rom) sei.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß Tertullian eine christliche Legende gekannt hat, nach welcher Tiberius auf Grund eines Berichts des Pilatus (»et ipse iam pro sua conscientia Christianus«) bei dem Senat den Antrag gestellt habe, Christus unter die Götter aufzunehmen, der Senat aber habe den Antrag abgelehnt (Apol. 5. 21). In welcher Form diese nichtsnutzige, aber symptomatische Legende aus Rom zu
1
Abhängigkeit von Hippolyt ist nicht, nachweisbar.
(4*)
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Gesammtsitzung vom 19. Februar 1914.
Tertullian gekommen ist, bleibt leider dunkel. ---- Ob zu seiner Zeit schon ein von Christen gefälschter Brief des Marc Aurel überdas Regen- wunder umlief (Apol. 5 ; ad Scap. 4) oder ob sich Tertullian auf ein echtes Schreiben an den Senat kühn bezogen hat, ist kontrovers1.
Ich hoffe in dem Vorstehenden alles erschöpft zu haben, was sich in Tertullians Schriften über jüdische und christliche Bücher, die er benutzt hat, findet. Diese stellen das christlich-theologische Kapital dar, welches dem ersten Schriftsteller der lateinischen Kirche zu Ge- bote gestanden hat. Um aber das geistige Kapital, aus welchem die abendländische Kirche durch Tertullian ihre Grundlagen empfangen, vollständig kennen zu lernen, müßte dieser Abhandlung eine zweite hinzugefügt werden, welche Tertullians »Bibliothek« profaner Schriften behandelt. Das Wort »Bibliothek« wäre hier freilich sehr viel weniger gerechtfertigt als bei den christlichen Schriften; denn die indirekte Benutzung philosophischer, antiquarischer und naturwissenschaftlicher Gelehrsamkeit und Ideen nimmt hier den breitesten Raum ein. Manches ist geschehen, um die Quellen tertullianischer Gelehrsamkeit nach- zuweisen; aber die Stelle ist doch noch nicht genau ermittelt, an welche Tertullian, der stoische Philosoph und Jurist, innerhalb der römischen Literatur- und Geistesgeschichte gehört.
Die Zahl der christlichen Schriften, die zur Kenntnis Tertullians gekommen ist, ist sowohl an sich, als auch im Vergleich mit dem, was damals vorhanden war. sehr bedeutend. Er kennt Altes und das Neueste (Irenäus, Melito, Apollonius, Prokulus usw.) und er stand augen- scheinlich mit Rom und mit Kleinasien, ja auch mit Lyon (wohl nur über Rom) in lebhafter und fortdauernder literarischen Verbindung2. Auch von Vorgängen in der Christenheit Antiochiens und Kappadoziens weiß er. Die Unkenntnis des alexandrinischen Christentums und der Mangel jeder Verbindung mit ihm entspricht der Sonderstellung Ägyptens
1
Siehe meine Abhandlung in den Sitzungsber. 1894, S. 835ff.: Die Quelle der Berichte über das Regenwunder im Feldzuge M. Aureis gegen die Quaden; GEFFCKEN in den Neuen Jahrbb. f. d. klass. Altert. III, 1899, S. 253ff.
---- Beiläufig bemerke ich, daß zu der Annahme, Tertullian (Apol. 2) habe den Pliniusbrief bei der Wiedergabe seines Inhalts gefälscht (GEFFCKEN), kein Grund vorliegt (richtig HEINZE, Tertullians Apologetikum 1910, S. 300). Aber auch die Annahme. Tertullian habe den Brief nicht im Original gelesen (MERRIL, Wiener Stud. XXXI, 1909, S.251 ff.; HEINZE, a. a. 0., S. 301), ist unnötig, sobald man den LAA des Fuldensis folgt und »de gradu pulsis« nicht mißversteht (HEINZE versteht es richtig). Aus der nicht gradezu falschen, aber einseitigen und irreführenden Ausbeutung des Briefes durch Tertullian läßt sich in bezug auf die Frage direkter oder indirekter Kenntnisnahme nichts schließen.
2
Aus Spanien war nichts zu holen.
HARNACK: Tertullians Bibliothek christlicher Schriften.
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neben dem Reich. Erst seit dem Ausgang des 2. Jahrhunderts beginnen leise Beziehungen zwischen den Kirchen von Rom und Alexandrien. Überblickt man die christlich-lateinische Literatur nach Tertullian bis Hilarius und Hieronymus, so erkennt man, daß in dieser Periode der Reichtum griechisch-christlichen Wissens und griechisch-christ- licher Bücher, der Tertullian zu Gebote stand, in der lateinischen Kirche fast unbenutzt und so gut wie unbekannt geblieben ist1. Da aber das Geschick es weiter so gefügt hat, daß die Schriften Ter- tullians noch bei seinen Lebzeiten in Mißkredit kamen
---- durfte es doch schon Cyprian nicht mehr wagen, ihn zu zitieren! ----, so ist dem gewaltigen Ansatz zu einer gehaltvollen und vielseitigen lateinisch- christlichen Literatur (auf dem Boden der griechischen), der durch Tertullians Leberiswerk bezeichnet ist, zunächst keine weitere Ent- wicklung gefolgt. Mit der Bibel und Cyprians Schriften, die rasch ein halbkanonisches Ansehen erhielten, mußte sich das christliche Abendland bis über die Mitte des 4. Jahrhunderts begnügen2. Der einzige Novatian, der in mancher Hinsicht in Tertullians Spuren ge- wandelt ist, wurde, wie sein Vorgänger, Schismatiker, und seinen zahlreichen Werken ist es noch viel schlimmer gegangen als denen Tertullians: sie sind sämtlich unterdrückt oder unter falsche Namen gestellt worden3, während Tertullian sein Eigentum behielt und teil- weise sofort durch Cyprian fortwirkte. In welcher Literatur hat sich der tragische Vorgang wiederholt, daß sie durch das Wirken eines Mannes mit einem vollen Frühling einsetzt, um dann anderthalb Jahr- hunderte lang auf eine entsprechende Fortsetzung warten zu müssen? Dann aber erschienen Hilarius, Marius Victormus, Ambrosius, Rufin, Hieronymus und Augustin, unmittelbar bevor der Winter der Barbarei und der Völkerwanderung hereinbrach, und brachten aus den Scheuern der griechischen Literatur und Wissenschaft dem Abendland die reich- sten Schätze
---- auch neue Schätze, die Tertullian nicht gekannt oder die er absichtlich beiseite gelassen hat, die platonisch-mystische Philosophie und die ihr entsprechende Erklärung der Bibel4.
1
Daraus folgt mit erheblicher Wahrscheinlichkeit, daß die Schriften, die Ter- tullian benutzt hat, größtenteils sein Privateigentum (oder das begüterter Freunde) waren bezw. nicht in »Kirchenbibliotheken« zu suchen sind.
2
Daher die Verachtung des Christentums bei den Gebildeten im Abendland, die Laktanz, ja sogar noch Sulpicius Severus hat beklagen müssen.
3 Minucius Felix kann kaum etwas von dem, was er im »Octavius« geschrieben, sein geistiges Eigentum nennen; Laktanz war ein breitflüssiger Ciceronianer mit einem geringen, aus der griechischen Literatur geflossenen Beisatz; Arnobius erschiene uns kaum mehr originell, wenn wir die wenigen Quellen besäßen, die er ausgeschrieben hat.
4
Dieser Erklärung gegenüber war übrigens die tertullianische in mehr als einer Hinsicht im Vorteil, s. HOLL, Tertullian als Schriftsteller (Preuß. Jahrbb. Bd. 88, 1897, S. 262 ff.).
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Gesammtsitzung vom 19. Februar 1914.
Jene Männer haben die christlich-lateinische Weltliteratur glänzend be- gründet, deren einsamer Vorläufer Tertullian gewesen ist1; denn Cyprians klerial-asketische Gelegenheitsschriften und Reskripte mit ihrem geistig und literarisch beschränkten Horizont
---- »Koprian« nannten ihn voll Spott die römischen Literaten, wenn ihnen seine Werke in die Hand fielen
---- zählten zunächst literaturgeschichtlich nicht (s. Anhang II). Indessen, man kann doch fragen, ob der theologische und lite- rarische Entwicklungsstillstand der abendländisch-christlichen Literatur und der lange dauernde Mangel griechischen Einflusses (nach dem reichen ersten Ansatz durch Tertullian) nur eine Einbuße bedeutet hat. Hätte sich der abendländische Geist in seiner eingeborenen Eigenart entwickeln, hätte er je zur Selbständigkeit gegenüber dem griechischen gelangen können, wenn dieser mit voller Stärke im 3. Jahrhundert stetig weiter eingewirkt hätte? Erstarkte nicht dieser Geist eben durch den gewaltigen Cyprian und durch namenlose Führer, bis er die Kraft empfing, die griechischen Schätze seit dem Ende des 4. Jahrhunderts aufzunehmen, ohne seine Eigenart an sie zu verlieren? Waren nicht Ambrosius und Augustin deshalb so bedeutend, weil sie die entwickelte und gefestigte lateinisch-kirchliche Eigenart2 mit griechischen Kennt- nissen und Ideen verbanden? Es scheint demnach, daß es so, wie es gewesen, gut gewesen ist: Tertullian, der Griechenschüler, der Begründer einer lateinisch-kirchlichen Literatur, die der griechischen ebenbürtig werden sollte3, durfte zunächst keine Nachfolger erhalten!
Anhang I (zu § 1 Schluß).
Als aus den heiligen Schriften geschöpft zitiert Tertullian einiges, was in ihnen nicht gefunden wird. Es handelt sich, soviel ich sehe, um folgende Stellen:
(1.) Apol. 20 wird eine Übersicht über den prophetischen Inhalt des A. T.s in bezug auf die Geschichte der Erde und der Vorgänge auf ihr gegeben. Hier findet sich auch u.a. der Satz: »quod monstris et portentis naturalium forma turbatur«, der durch keine A. T.liche Erzählung sicher gedeckt ist. Wahrscheinlich hat Tertullian den Inhalt der Offenbarung Johannis hier eingemischt; vielleicht aber ist doch eine Schilderung wie Joel 2 hier die Unterlage (s. auch Genes. 6).
(2.) In de monog. 16 liest man: »Quid, si de posteritate quis cogitet iisdem animis quibus oculis uxor Loth, ut ideo quis repetat matrimonium. quia de priore liberos non habuit?« Mir scheint hier wahrscheinlicher eine Konfusion des bereits gedächtnisschwachen Tertullian vorzuliegen als eine eigentümliche Tradition, die von der kanonischen Legende total verschieden sein müßte.
(3.) De carne 23 heißt es: »Legimus apud Ezechielem de vacca illa, quae pe- perit et non peperit.« Über diesen merkwürdigen Spruch, der an Hiob 21,10 stark anklingt (Vulg.: »vacca peperit et non est privata foetu suo«), aber aus dieser Stelle
1
Tertullian gehört mit mehreren seiner Werke, und nicht nur den griechisch geschriebenen, in die griechische Literaturgeschichte.
2
Diese Eigenart tritt namentlich in Optatus leuchtend hervor.
3
Nicht ein bloßer Ableger wie die syrische, koptische usw.
HARNACK: Tertullians Bibliothek christlicher Schriften.
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allein wohl nicht erklärt werden kann, vermag ich nichts anderes zu sagen, als was ich schon Altchristi. Litt.-Gesch. II, 1 S. 560 f. bemerkt habe. Er gehört zu den best- bezeugten apokryphen A. T.liehen Sprüchen. Gleichzeitig mit Tertullian findet er sich bei Clemens Alex. (STROM. VII, 16, 94:
,τέτοκεν καὶ οὐ τέτοκεν' φησὶν ἡ γραγή) und in den Act. Petri cum Sim. Vercell. 24 (nach einem apokryphen Prophetenspruch und vor Jes. 7, 14): »et iterum dicit: ,Peperit et non peperit'.« Auch Epiphanius bietet ihn (haer. 30, 30):
καὶ πάλιν ἐν ἑτερῳ τόπῳ λέγει. ,καὶ τέξεται ἡ δάμαλις, καὶ ερουσιν ου τέτοκεν', sowie Gregor Nyss. adv. Iud. 303:
καὶ πάλιν. ,ἰδαῦ ἡ δαμαλις τέτοκε καὶ ου τέτοκε'. Den Fundort (Ezechiel) gibt nur Tertullian an; man darf schwerlich an ein besonderes Buch, sondern muß an einen alten Zusatz zur Prophetie des Ezechiel denken. Den Christen war der Zusatz sehr willkommen; denn sie deuteten ihn auf Maria (vielleicht gehört hierher auch die Ascen. Jesaiae [Visio apol. 11,9, ed. DILLMANN, S. 55 sq.]: »Erant qui dicerent: ,Parturiit virgo Maria, priusquam duos menses nupta erat' et multi dicebant: ,Non parturiit. nee ascendit obstetrix nee cla- inorem dolorum audivimus'«). Geht nicht die katholische Lehre von der virginitas in partu auf unsern apokryphen Spruch zurück?
(4.) De idol. 23 schreibt Tertullian: ,Si', inquit. ,concupiscentia vel malitia in cor hominis ascenderit, pro facto teneri'«. Der Spruch klingt sachlich stark an Matth. 5, 28 an (s. RESCH, Agrapha, Texte u. Unters. V, 4, S. 442), und es mag sein, daß er ledig- lich eine freie Ausprägung des dort gegebenen Gedankens ist und an eine besondere Quelle nicht gedacht zu werden braucht1.
(5.) De paenit. 11 heißt es: »Hi sunt, de quibus scriptura commemorat: .Vae illis qui delicta sua velut procero fune nectunt'.« Es läßt sich nicht ermitteln, wo dieser mit Prov. 5, 22 verwandte Spruch gestanden hat (s. RESCH, a. a. 0. S. 449).
(6.) De idol. 20 liest man: »Sicut scriptum est: .Ecce horno et f'acta eins'.« Dieser »Ecce-homo«-Spruch ist (s. schon dem. Alex. IV, 26, 171) stark bezeugt (s. RESCH S. 133 f. 265 f. 293; ROPES, Texte und Unters. XIV, 2, S. 45 f.), und zwar in der Regel in der Form:
ιδοὺ ανδρωπος καὶ τὰ ἒργα αυτου πρὸ προσωπου αυτου.. Weder ist an ein apokryphes Herrnwort zu denken noch notwendig an ein Schrift- wort. Nur Tertullian bezeichnet es als ein solches, und er wird sich wohl geirrt haben. Er wird das Wort von irgendwoher aufgelesen und für ein Schriftwort ge- halten haben. Woher es aber wirklich stammt, wissen wir nicht
---- vielleicht aus einer jüdischen Apokalypse.
(7.) Scorp. 7 heißt es: »Sophia«, inquit, »iugulavit filios suos.« Das Wort findet sich sonst nirgends, wohl aber schreibt Origenes (in Jerem. hom. XIV, 5)
---- ebenfalls ohne Unterlage an unseren Evangelien----: καὶ ἐν τῷ ευαγγελίῳ αναγέγραπται. καὶ αποστέλλει η σοφια τα ̀ τεκνα αυτῆς. Die
τεκνα της σοφιας
finden sich auch Luc. 7, 35, und Luc. 11,49 heißt es: δια τουτο και η σοφια του θεου ειπεν. αποστελῶ εις αυτους προφητας κτλ. Mir ist es mit RESCH (S. 444) wahrscheinlich, daß das "iugu- lavit« bei Tertullian ein Übersetzungsfehler ist (kein Fehler der Abschreiber, denn Tertullian argumentiert mit dem Wort). Dann kommt das Zitat dem des Origenes ganz nahe; aber als Kontamination aus den beiden Lukasstellen darf es doch nicht aufgefaßt werden; denn Origenes ist von Tertullian unabhängig. Also muß hier wirklich ein apokryphes Herrnwort anerkannt werden, von dessen Fundstelle wir nichts wissen. Stammt es aus dem Ägypterevangelium, so könnte es Tertullian nicht wohl direkt aus diesem zugegangen sein
---- denn er kannte dies Evangelium nicht ----, sondern er müßte es aus einer Schrift aufgelesen haben, in der es zitiert war. Aus Prov. 9,3 (s. ROPES, a. a. 0. S. 15 f.) allein läßt sich das Zitat schwerlich erklären.
1
Dies gilt meines Erachtens sicher von dem »apokryphen« Spruch adv. Her- mog. 22 (»Si non est scriptum, timeat: ,Vae illud adiicientibus aut detrahentibus desti- natum'«, den RESCH a. a. 0. S. 294 für ein Logion hält.
---- Auch für das Zitat de bapt. 20: »Nam et praecesserat dictum: Neminem intentatum regna coelestia conse- cuturum«, darf man schwerlich auf eine unbekannte Schriftstelle rekurrieren (gegen RESCH, S. 108. 187 f.).
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Gesammtsitzung vom 19. Februar 1914.
(S.) De orat. 26 schreibt Tertullian: »Vidisti«, inquit, »fratrem, vidisti dominum tuum.« Dies auch von Clemens Alex. (Strom. I, 19, 94 und II, 15, 70) und bei Palladius (s. PREUSCHEN, Rufin S. 48) zitierte Wort (s. RESCH S. 296; ROPES S. 49)
---- Clemens und Palladius bieten ειδες τον θεον σου
---- ist leider nicht näher zu bestimmen. Er- wägt man, daß Clemens Alex, und Tertullian, die doch sonst nichts gemeinsam haben, gemeinsam die drei apokryphen Sprüche bringen:
»Peperit et non peperit«, »Ecce homo et facta eius«,
»Vidisti fratrem, vidisti dominum (deum) tuum«,
so mag hier ein literarisches Rätsel stecken, das durch unsere Bemerkungen nicht gelöst ist, das aber bis auf weiteres überhaupt nicht gelöst werden kann.
(9.) Adv. Marc. III, 19 und adv. Iud. 10. 13 findet sich auch bei Tertullian der bekannte Zusatz zu PS. 106, 10: »regnat a ligno«. Ich vermag über denselben nichts zu sagen, was nicht schon von anderen gesagt ist.
Anhang II (zu den Schlußausfuhrungen).
Die christliche »Bibliothek« Cyprians.
Nichts ist lehrreicher, als nach der Musterung der christlichen Bibliothek Ter- tullians die Cyprians ins Auge zu fassen: Abgesehen von der Bibel1 findet man nichts von ihm zitiert! Aber man darf noch mehr sagen: Abgesehen von der fleißigen, aber überall vollkommen verschleierten Lektüre Tertullians legt es keine Stelle in seinen Traktaten und Briefen nahe, nach einer Quelle zu suchen, ausgenommen die Stellen in ep. 73 und 74, in denen er auf gnostische Häretiker zu sprechen kommt (Cerdo, Marcion, Valentinianer, Apellesschüler, Ophiten). Sie stammen, wie die chronologische Notiz über Cerdo lehrt, entweder direkt oder indirekt2 aus Irenäus: die Apellesschüler sind nach Tertullian hinzugefügt. Wenn außerdem hier »Patripassiani« und »Anthropiani« (fehlt im Sangerm.) aufgezählt sind, ja den Reigen eröffnen (!), so sind diese Bezeichnungen der modalistischen und adoptianischen Monarchianer (der Name »Anthropiani« ist sonst nicht bekannt) aus der lebendigen mündlichen Überlieferung (unter Einfluß von Tertullians Schrift adv. Prax.) genommen. Derselbe Mann, der mit Rom, Sizilien, Gallien, Spanien und Kappa- dozien korrespondiert und die großen kirchlichen Tagesfragen des Abendlandes diri- giert, hat nicht nur keine ältere christliche Literatur zitiert, sondern er hat. wenn nicht alles trügt, abgesehen von der Bibel und Tertullian, kaum etwas Christliches gelesen. Die christliche Bibliothek Cyprians bestand nahezu ausschließ- lich aus der Bibel und Tertullians Schriften. Das ist seine Schwäche und das ist seine Stärke gewesen! Neben der gesamten übrigen altchristlichen lateinischen Literatur, der älteren und der gleichzeitigen, bilden die zum Teil schon von ihm selbst gesammelten Traktate und Briefe Cyprians eine Größe für sich. Sie wurden faute de mieux »Literatur«, aber eine Literatur von kräftigster Wirkung.
1 Das N. T. stimmt mit dem Tertullians (der Hirte des Hermas fehlt; doch sind Anspielungen wahrscheinlich). Nur eine einzige Anspielung auf einen apo- kryphen Spruch findet sich, nämlich de mortal. 17: »qunlem te invenit dominus. cum vocat, talem pariter et iudicat«. Dieser zuerst von Justin bezeugte Spruch Jesu ist in der altchristlichen Literatur etwa noch achtzehnmal belegt (s. Texte und Unters. Bd. 30,
4, S. 102. 322 ff.).
2
Daß Cyprian Griechisch gekonnt hat, läßt sich nicht beweisen. Das griechische Original der Bibel kannte er nicht.
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Ausgegeben am 7. März.
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Berlin, gedruckt in der Keiehsdruckerei.
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