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Gegen Marcion. IV

207 n. Chr.

[Übersetzt von Dr. K. A. Heinrich Kellner]

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Inhalt:

Viertes Buch

1. Cap. Marcion hat zur Begründung seiner Lehre, das der Gott des alten Bundes ein von dem Gott des Evangeliums verschiedener sei, ein Werkchen mit dem Titel "Antithesen" verfasst, worin er immer eine Stelle des alten je einer Stelle des neuen Testamentes gegenüberstellt, um ihre Grundverschiedenheit zu beweisen. Tertullian erwidert, dass man diese Behauptung Marcions in präskriptiver Weise mit einem Schlage widerlegen könne durch den Nachweis, dass im, alten Testamente deutlich die Abschaffung des alten und. die Errichtung eines netten Bundes vorhergesagt sei, und führt diesen Nachweis. Neues aber ist, wenigstens der Art und Beschaffenheit nach, immer vom Alten verschieden.

2. Cap. Von den vier Evangelien will Marcion nur das verstümmelte Evangelium des Lukas, dem auch der Titel fehlt, gelten lassen, als sei es das Evangelium des hl. Paulus. Man könnte sich auch hierbei damit begnügen, gegenüber den Schriften der eigentlichen und älteren Apostel demselben einfach alle Autorität abzusprechen.

3. Cap. Wenn Paulus die andern Apostel nach Gal. 1, 14 tadeltet so geschah es nicht darum, weil sie sich einer Verderbnis des Evangeliums schuldig gemacht hatten, sondern wegen ganz anderer Ursachen. Das angebliche echte Evangelium des Marcion verliert damit seine historische Basis und steht als Fälschung da.

4. Cap. Wenn Marcion sein Evangelium für das rechte und echte Lukas-Evangelium ausgibt und den gewöhnlichen Text als gefälscht bezeichnet, so entscheidet darüber das Zeitverhältnis. Nun hat man aber vor dem Abfall des Marcion von der Kirche von dieser kritischen Streitfrage über die beiden Texte des Lukas-Evangeliums gar nichts gewusst, also nur einen gekannt, und das war offenbar nicht der Text Marcions.

5. Cap. Die Frage über die Echtheit der Evangelien überhaupt wird durch das Zeugnis der von den Aposteln gegründeten Kirchen entschieden, die wissen mussten, ob eine Schrift von einem Apostel herrühre oder nicht. Die Richtigkeit der betreffenden Tradition wird durch die ununterbrochene recht-massige Succession der Bischöfe bezeugt. Auf diese Weise aber lüsst sielt ebensowohl die Apostolizität der drei anderen Evangelien und, der Apokalypse als die des Lukas-Evangeliums darthun.

6. Cap. Klarstellung des Gegenstandes und der Methode des nun folgenden Nachweises, dass der zur Zeit des Tiberius erschienene Christus der vom Schöpfergott im alten Testamente verheissene Messias sei und nicht, wie Marcion behauptet, der Christus des andern Gottes der reinen Güte. Dies ergibt sich sogar aus den Teilen der hl. Schrift, welche Marcion als echt und unverfälscht gelten lässt und beibehalten hat.

IV. Buch.

1. Nunmehr prüfen wir jede einzelne Meinung und das sämtliche Zeug des gottlosen und sakrilegischen Marcion an seinem Evangelium selbst, d. h. an dem, welches er durch seine Fälschungen zum Reinigen gemacht hat. Zum Zwecke, einen Glauben zu lehren, hat er, als eine Art Mitgift dafür, das Werk angefertigt, welches wegen der einander darin gegenübergestellten Gegensätze "Antithesen" betitelt und auf künstliche Scheidung von Gesetz und Evangelium berechnet ist. Danach unterscheidet er zwei, darum natürlich verschiedene Götter, einen für jedes Instrument oder Testament (nach dem gebräuchlicheren Ausdruck), um dadurch auch dem Evangelium, das nach Maassgabe der Antithesen geglaubt werden muss, einen Halt zu geben. Ich hätte auch letztere in besonderer Bekämpfung Stück für Stück, d. h. alle einzelnen Einwürfe des Pontikers, zusammengehauen, wenn sie sich nicht schicklicher mit dem Evangelium selber, dem sie zur Stütze dienen, widerlegen ließen, wiewohl es so leicht ist, ihnen im Präskriptionswege entgegenzutreten, und zwar in der Weise, dass ich sie annehme, sie gelten und für uns sprechen lasse, als wären sie schon jetzt unsere Antithesen gegen Marcion.

So räume ich denn also ein, es habe sich im alten Heilsplan unter dem Schöpfergott ein anderes Verfahren entwickelt, als im neuen bei Christus. Ich leugne nicht, dass die Urkunden seiner Aussprüche, die Tugendvorschriften und die gesetzlichen Ordnungen Abweichungen aufweisen, doch so, dass alle diese Verschiedenheiten sich mit der Einheit; und Identität Gottes vertragen, jenes Gottes nämlich, der sie, wie feststeht, angeordnet und auch vorher angekündigt hat. In alter Zeit predigte Isaias, "ein Gesetz werde ausgehen aus Sion und das Wort des Herrn aus Jerusalem", 1) natürlich ein anderes Gesetz und ein anderes Wort. "Er wird Richter sein unter den Nationen und sehr viele Völker strafen", versteht sich, nicht nur den jüdischen Stamm allein, sondern auch Heiden-Völker, die infolge des neuen evangelischen Gesetzes und des neuen Wortes der Apostel ihr Gericht finden und überführt werden vor sich selbst, nämlich ihres vorigen Irrtums. Dieselben haben alsbald den Glauben angenommen und "schmieden ihre Schwerter zu Pflügen und ihre Lanzen", wie der Ausdruck lautet, "zu Sicheln um", d. h. sie verwandeln ihr einst wildes und grausames Gemüt in eine rechtschaffene, gute Früchte bringende Gesinnung. Und wiederum heisst es: "Höret mich, höret mich, mein Volk und ihr Könige, und richtet euer Ohr auf mich; denn es wird ein Gesetz ausgehen von mir und ein Gericht zur Erleuchtung der Nationen".2) Damit ist sein Urteil3) und Beschluss gegeben, dass auch die Heiden durch das Gesetz und das Wort des Evangeliums erleuchtet werden sollen. Dies dürfte dann auch das Davidische "untadelige Gesetz"4) sein, weil es vollkommen ist und die Seelen bekehrt, nämlich von den Götzen zu Gott. Dies dürfte auch das Wort sein, wovon es bei demselben Isaias heisst: "Kurz wird sein die Rede, die der Herr richten wird an die Erde";5) denn das neue Testament ist vereinfacht und von den buntscheckigen Lasten des Gesetzes frei.

Doch wozu noch mehr? Es ist ja sonnenklar, dass vom Schöpfer durch denselben Propheten eine Erneuerung angekündigt wird. "Vergesset das Frühere und denkt nicht mehr an das Alte. Das Alte ist vorbei, Neues entsteht. Siehe, ich mache alles neu, was nun entstehen wird. 6) Ähnlich sagt Jeremias: "Machet alles bei Euch ganz neu und säet nicht mehr unter die Dornen, sondern beschneidet Euch an der Vorhaut Eures Herzens."7) Und anderswo: "Siehe, es werden Tage kommen", spricht der Herr, "und ich werde mit dem Hause Jakob und dem Hause Juda einen neuen Bund schliessen, nicht wie den alten Bund, den ich geschlossen habe mit ihren Vätern am Tage, wo ich sie bei der Hand8) ergriff, um sie hinauszuführen aus dem Lande Ägypten." Also stellt er den vorigen Bund als einen zeitweiligen hin, indem er ihn als einen veränderlichen charakterisiert und einen ewigen für die Zukunft verspricht, nämlich durch Isaias: "Höret mich und Ihr werdet leben und ich will Euch einen neuen Bund einrichten",9) hinzufügend "die Heiligkeit und Treue Davids", um damit anzuzeigen, dass dieser Bund in Christus seinen Verlauf nehmen werde. Diesen hat er, als aus dem Geschlechte Davids stammend, entsprechend dem Census Mariens, auch in dem Reis, das aus der Wurzel Jesse hervorgehen sollte, figürlich vorherverkündet.

Wenn es also heisst, es würden andere Gesetze, andere Reden und andere Anordnungen der Testamente vom Schöpfer ausgehen in der Weise, dass er sogar andere vorzüglichere Opferdienste, und zwar noch dazu bei den Heiden in Aussicht nahm, ---- denn Malachias sagt: "Mein Wille ist nicht mit Euch", spricht der Herr, "und ich werde keine Opfer annehmen von Euren Händen; denn vom Aufgang der Sonne bis zum Niedergang wird mein Name verherrlicht werden unter den Nationen, und an jedem Orte wird meinem Namen geopfert und ein reines Opfer dargebracht werden",10) nämlich einfältiges Gebet aus reinem Gewissen, ---- so muss also jede Veränderung, die Folge einer Erneuerung ist, eine Verschiedenheit zu den betreffenden Dingen eingehen, und wegen der Verschiedenheit auch in Gegensatz treten. Denn so wenig als etwas eine Veränderung erleiden kann, ohne verschieden zu sein, so wenig kann es verschieden werden, ohne gegensätzlich zu werden. Es wird also bei den Dingen, wo eine Veränderung als Folge einer Erneuerung eingetreten ist, auch eine Gegensätzlichkeit als Folge der Verschiedenheit angenommen werden. Wer eine Veränderung vornahm, der hat auch eine Verschiedenheit herbeigeführt; wer eine Erneuerung ankündigt, der hat auch eine Gegensätzlichkeit in Aussicht gestellt. Warum folgerst Du nun aus den Verschiedenheiten der Dinge eine Verschiedenheit der Kräfte? Was kehrst Du die in der Schöpfung vorkommenden Antithesen gegen den Schöpfer, während man sie sogar in den Gedanken und Stimmungen desselben wiederfinden kann? "Ich werde schlagen", sagte er, "und auch heilen,11) ich werde töten und lebendig machen", nämlich "Unglück herbeiführen und dann den Frieden verleihen."12) Daraufhin pflegst Du ihm Unbeständigkeit und Wankelmut vorzuwerfen, wenn er verbietet, was er befiehlt, und befiehlt, was er verbietet. Warum hast Du nicht auch Antithesen zu den wesentlichen Eigenschaften des Schöpfers gerechnet, da er sich immer widerspricht? Wagst Du nicht, wenigstens die Beobachtung zu machen, dass die Welt, wenn ich nicht irre, sogar auch in Pontus aus den Gegensätzen sich untereinander bekämpfender Substanzen erbaut sei? Daher hättest Du auch erst einen Gott für das Licht und einen zweiten für die Finsternis ansetzen müssen, um danach einen für das Gesetz und einen zweiten für das Evangelium durchsetzen zu können! In den handgreiflichen Schöpfungen desjenigen, dessen Werke und Entwürfe auf Gegensätzen beruhen, ist aber das Präjudiz gegeben, dass auch seine Heilsgeheimnisse dieselbe Beschaffenheit haben werden.

2. Das wäre kurz und bündig unsere Antwort auf die Antithesen. Ich gehe nun zum Nachweise in betreff des Evangeliums über, das freilich nicht mehr Judaistisch, sondern Pontisch, gegenwärtig verfälscht ist, um damit die Grundlage für die einzuhaltende Reihenfolge zu gewinnen. Wir stellen zuerst fest, dass die evangelische Urkunde zu Verfassern die Apostel habe, denen die Aufgabe, das Evangelium zu verbreiten, vom Herrn selbst auferlegt wurde. Wenn apostolische Männer darunter sind, so sind sie nicht bloss dieses, sondern auch Zeitgenossen und Nachfolger von Aposteln; denn die Predigt von blossen Schülern hätte in den Verdacht der Ruhmbegierde kommen können, wofern ihr nicht die Autorität ihrer Lehrmeister, ja, sogar Christi selbst, zur Seite stände, welch letzterer die Apostel zu Lehrern gemacht hat. So legen uns also aus der Zahl der Apostel Johannes und!* Paulus den Glauben vor; aus der Zahl der apostolischen Männer prägen ihn Lukas und Markus aufs neue ein, indem sie beide, mit derselben Glaubensregel beginnend, alles lehren, was sich auf den einen Schöpfergott, seinen Christus, der aus der Jungfrau geboren ist, und die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten bezieht. Wenn die Anordnung der Erzählungen verschieden ist, so schadet das nichts, wofern nur in betreff des Hauptstückes des Glaubens Übereinstimmung vorhanden ist. Mit Marcion ist aber keine vorhanden.

Marcion dagegen gibt von seinem Evangelium keinen Verfasser an, als ob er, dem es kein Frevel schien, das Ganze zu Grunde zu richten, nicht auch einen Titel hätte fingieren dürfen! ? Ich könnte hierbei schon stehen bleiben und behaupten, ein Werk, welches keine Überschrift hat, keine Gewähr leistet und keine Zuverlässigkeit verspricht wegen mangelnden Titels und nötiger Angabe des Autors, sei gar nicht anzuerkennen. Allein wir wollen uns lieber alles erkämpfen und nichts übergehen, wie man aus unserer Arbeit ersehen kann. Von den Berichterstattern, die wir haben, scheint sich Marcion den Lukas ausersehen zu haben als den, welchen er ausbeuten will. Nun ist aber Lukas kein Apostel, sondern nur ein apostolischer Mann, kein Lehrer, sondern ein Schüler. Daher ist er natürlich geringer als sein Lehrer und jedenfalls um so viel später, als er Begleiter eines spätem Apostels war, nämlich ohne Zweifel des Paulus. Wenn daher Marcion auch sein Evangelium noch unter dem Namen des Paulus selber eingeführt hätte, so würde eine solche allein ohne die Unterstützung von Vorgängern dastehende Urkunde nicht glaubwürdig genug sein. Denn man müsste dann auch nach dem Evangelium fragen, welches Paulus vorgefunden, dem er Glauben geschenkt und dessen Übereinstimmung mit dem seinigen er gerühmt hat. Er reiste ja zu dem Ende nach Jerusalem hinauf, die Apostel kennen zu lernen und sie zu befragen, um ja nicht etwa umsonst zu laufen, d. h. anders zu glauben wie sie und das Evangelium nicht zu verkünden wie sie. Als er sich mit den Gewährsmännern besprochen hatte und ihre Übereinstimmung in der Glaubensregel feststand, reichten sie sich die Hände, und von da an theilten sie sich die Missionsämter; jene nahmen das für die Juden, Paulus das für die Juden und Heiden. Wenn also der, welcher für Lukas selber die Quelle war, für seinen Glauben und seine Predigt die Autorität der Vorgänger begehrte, um wie viel mehr werde ich sie für Lukas fordern, wenn sie für seines Lehrers Evangelium nötig war.

3. Etwas ganz anderes ist es, wenn Marcion das Heilsgeheimnis der christlichen Religion erst mit der Schülerschaft des Lukas beginnen lässt. Bestand es jedoch schon früher, so hatte es jedenfalls seine authentische Ausrüstung,13) mittels deren es bis auf Lukas kam und auf deren Zeugnis hin auch Lukas zugelassen werden kann. Dem Marcion aber geriet der Brief des Paulus an die Galater in die Hände, worin derselbe sogar die Apostel darüber zurechtsetzt, dass sie nicht festen Schrittes wandelten nach der Wahrheit des Evangeliums, und zugleich gewisse Pseudo-Apostel anklagt, die das Evangelium Christi verfälschten. Hierauf stützt er sich, um die Stellung der Evangelien zu erschüttern, die recht eigentlich solche sind und unter dem Namen der Apostel oder auch apostolischer Männer ausgegeben wurden, und so die Glaubwürdigkeit, die er ihnen genommen, seinem Evangelium zuzuwenden.

Wenn Petrus, Johannes und Jakobus, die als die Säulen galten, auch wirklich getadelt worden sind, so liegt die Ursache davon am Tage. Sie schienen nämlich aus Rücksicht auf gewisse Personen ihre Lebensweise zu wechseln. Trotzdem aber konnte auch Petrus, wie Paulus selbst allen alles wurde, um alle zu gewinnen, absichtlich etwas anders gemacht haben, als er lehrte. Wenn sich falsche Apostel eingeschlichen hatten, so findet sich ebenfalls deren Beschaffenheit angegeben; es waren Leute, welche die Beschneidung und den jüdischen Kalender beibehalten wollten. Folglich wurden sie von Paulus nicht wegen ihrer Lehre, sondern wegen ihres Verhaltens getadelt, und er würde sie ebenso getadelt haben, wenn sie in betreff Gottes, des Schöpfers, oder seines Christus geirrt hätten. Man wird also das einzelne auseinander halten müssen. Wenn Marcion darüber Klage führt, dass die Apostel krummer Wege und der Verstellung verdächtig gewesen seien bis zur Verfälschung des Evangeliums, dann klagt er damit eigentlich Christus an, denn er klagt die an, die Christus erwählt hat.

Wofern aber die Apostel das richtige Evangelium zwar bewahrten und vererbten, und bloss wegen der Ungleichmässigkeit ihrer Lebensweise getadelt wurden, hingegen die Pseudo-Apostel es waren, welche die richtige Lehre der Apostel verfälschten, und wenn unsere Berichte von ihnen herrühren, wo ist dann die echte apostolische Urkunde geblieben, die Gegenstand der Fälschung wurde, die Paulus zur Erleuchtung diente und dann Lukas? Oder wenn sie so gründlich untergegangen ist wie in der Sündflut und durch eine Überschwemmung mit Fälschern ganz unkenntlich gemacht ist, dann hat ja auch Marcion die echte nicht mehr. Oder wenn eben das das echte Evangelium, d. h. das apostolische Evangelium ist, welches Marcion allein hat, wie kann es denn mit dem unsern, das nicht apostolisch ist, sondern dem Lukas zugeschrieben wird, übereinstimmen?14) Oder wenn das, dessen sich Marcion bedient, nicht ohne weiteres dem Lukas zuzuschreiben ist, weil es mit dem unsrigen übereinstimmt, das wohlgemerkt, auch schon in seinem Titel gefälscht ist, so ist das übrige von den Aposteln. Dann ist sofort also auch das unsrige, was mit jenem übereinstimmt, ebenso gut von den Aposteln; aber es ist verfälscht auch hinsichtlich des Titels.

4. Wir müssen also nun das Haderseil ziehen, wobei die Kraftanstrengung von beiden Seiten die gleiche ist. Ich nenne mein Evangelium echt, Marcion seins; ich nenne seins verfälscht, er meins. Wer wird zwischen uns entscheiden? Nur das Zeitverhältnis, indem die Zeit für das, was das ältere ist, Autorität präskribirt und gegen das, was als das jüngere dastehen wird, das Präjudiz der Verfälschung erweckt. Denn sowie die Fälschung eine Verderbnis des echten ist, so muss notwendig das Echte dem Gefälschten vorausgehen. Erst wird der Gegenstand da sein müssen, ehe etwas mit ihm geschieht, und die Sache, bevor sie nachgeäfft wird. Wenn wir erwiesen haben, dass unser Evangelium älter, das Marcionitische dagegen jünger sei, so wäre es höchst absurd, dass einerseits unser Evangelium schon als ein gefälschtes erscheinen sollte, bevor ein echtes ihm den Stoff dazu geliefert hatte, andererseits das Marcionitische durch das unsrige Widerspruch erfahren habe, bevor es herausgegeben war, und endlich drittens, dass das in höherem Grade als echt gelten soll, was spätem Ursprungs ist, nachdem bereits so viele wichtige Werke und Urkunden der christlichen Religion im Laufe der Zeit erschienen waren, die ohne ein echtes Evangelium, d. h. vor einem echten Evangelium, nicht hätten erscheinen können.

Was also das nunmehr sogenannte Evangelium des Lukas angeht, insofern seine Echtheit bei gemeinschaftlichem Besitz zwischen uns und Marcion streitig ist, so ist das, was darin mit unserer Lehre harmoniert, um so viel älter als Marcion, als er selber ihm einmal Glauben geschenkt hat, zur Zeit, als er im ersten Eifer des Glaubens der katholischen Kirche sein Vermögen übertrug, das aber bald mit ihm zusammen hinausgeworfen wurde, nachdem er von unserer Wahrheit ab in seine Häresie verfallen war. Wie aber, wenn die Marcioniten im Widerspruch sogar mit Marcions eigenem Briefe leugnen sollten, dass er zuerst bei uns den Glauben angenommen hat? Wie, wenn sie auch seinen Brief nicht einmal anerkennen sollten? ---- Dann erklären sie sicher doch noch die Antithesen nicht bloss für ein Werk Marcions, sondern sie geben ihnen auch den Vorzug. Der Beweis aus diesen letzteren aber genügt mir. Denn wenn das Evangelium, welches bei uns als das des Lukas gilt ---- ob bei Marcion auch, werden wir sehen, ---- dasselbe ist, welches Marcion in seinen Antithesen tadelt, als von den Gönnern des Judaismus verfälscht, um das Gesetz und die Propheten damit zu verschmelzen, weil sie sich mit Hilfe dessen auch Christus heraustifteln, so konnte er jedenfalls nur das tadeln, was er vorgefunden hat. Niemand  tadelt das Zukünftige, da er es, weil zukünftig, noch nicht kennt. Die Besserung geht nie der Sünde vorher. Als einziger und erster Verbesserer des von den Zeiten des Tiberius bis auf die des Antoninus in Verderbnis geratenen Evangeliums begegnet uns nur Marcion. Er wurde die ganze Zeit hindurch von Christus mit Schmerzen erwartet und es that diesem schon leid, dass er die Apostel so eilig und ohne sich des Beistandes Marcions versichert zu haben, vorausgeschickt hatte. Jedoch die Häresie ist eine Sache menschlicher Verwegenheit, nicht der Autorität Gottes, und sie verbessert stets die Evangelien so, dass sie schlechter werden, während Marcion, auch wenn er ein Jünger, doch "nicht über dem Meister" stand. War er ein Apostel, so sagt Paulus, "sowohl ich als auch sie, wir predigen so". War er ein Prophet, so sind auch "die Prophetengeister den Propheten unterthan, denn sie sind nicht Geister der Zerstörung, sondern des Friedens". Selbst wenn er ein Engel gewesen wäre, so würde er eher Anathema heissen müssen als ein Verkünder des Evangeliums, weil er ein anderes Evangelium verkündet hat. Durch seine Verbesserungen bestätigt er also beides, sowohl dass unser Evangelium das ältere sei, indem er nur Dinge verbessern konnte, die er vorfand, und zweitens, dass dasjenige, welches er aus dein verbesserten unsrigen schuf und sich dann zu eigen machte, das spätere war.

5. In Summa, wenn es feststeht, dass das Frühere das echte sei, das aber, was von Anfang da war, das Früheste und eben das, was von den Aposteln herrührte, das Uranfängliche, so wird mit gleicher Sicherheit jedenfalls der Satz feststehen: was in den Kirchengemeinden der Apostel als heilig und unantastbar gegolten hat, sei dasselbe mit dem, was von den Aposteln gelehrt wurde. Sehen wir zu, welches die Milch war, die Paulus den Korinthern zum Trank darbot, welches die Regel, nach der die Galater corrigiert wurden, wie die Philipper, Thessalonicher und Epheser lasen und was ganz in unserer Nähe die Römer sagen, denen Petrus und Paulus das Evangelium mit ihrem Blute unterschrieben hinterlassen haben. Wir haben auch Tochterkirchen des Johannes. Denn obgleich Marcion dessen Apokalypse verwirft, so steht doch die Reihenfolge der Bischöfe, die bis auf den Ursprung derselben zurückgeht, für Johannes als den Verfasser.15) In derselben Weise bewährt sich auch die edle Abstammung der übrigen Kirchen.

Ich behaupte also, bei den genannten, und nicht bloss bei den eigentlich apostolischen, sondern bei allen Kirchen, die damit durch Glaubensgemeinschaft verbunden sind, stehe dasjenige Evangelium vom ersten Augenblick seines Erscheinens an als das des Lukas da, welches wir als solches verteidigen, das Evangelium des Marcion hingegen sei den meisten gar nicht bekannt, von allen aber, die es kannten, verworfen worden. Er hat allerdings auch seine Kirchengemeinden, aber seine aparten, später entstandenen und gefälschten, und wenn man ihrem Ursprung nachgeht, so wird man finden, dass derselbe ein apostatischer, aber kein apostolischer sei, indem Marcion oder einer von seinem Schwärme ihr Gründer war. Auch die Wespen machen Honigwaben, auch die Marcioniten stiften Kirchengemeinden.

Dieselbe Autorität seitens der apostolischen Kirchen wird auch den übrigen Evangelien zu gute kommen, nämlich denen des Johannes und Matthäus, wenn auch das, was Markus herausgegeben, für das des Petrus angesehen wird, dessen Dolmetscher Markus war. Pflegt man doch auch den Bericht des Lukas dem Paulus zuzuschreiben. Es geht recht wohl an, dass man als den Lehrern zugehörig ansieht, was die Schüler veröffentlicht haben. Daher muss man auch hinsichtlich ihrer dem Marcion auf den Fersen sitzen, warum er sich mit Beiseitesetzung derselben lieber an Lukas hält, als hätten sie in den Kirchen nicht ebensogut wie das des Lukas von Anfang an existiert. Ja, es ist sogar glaublich, dass sie ganz von allem Anfang an existierten, weil sie, als von den Aposteln selbst geschrieben, noch früher da waren und weil sie mit den Kirchengemeinden zugleich entstanden. Was sollte man dazu sagen, wenn die Apostel nichts und ihre Schüler dafür desto* mehr herausgaben, da die letztern doch ohne den Unterricht ihrer Lehrer nicht einmal Schüler hätten sein können. Wenn also feststellt, dass diese Evangelien in den Kirchen vorhanden waren, warum hat Marcion nicht auch nach ihnen gegriffen, um sie zu verbessern, wenn sie verfälscht waren, oder um sie anzuerkennen, wenn sie echt waren? Denn es ist selbstverständlich, wenn es Leute gab, die ein Evangelium verfälschten, so würden sie sich die Verfälschung der andern, deren Ansehen ihnen allgemein bekannt war, noch mehr haben angelegen sein lassen. Darum sind sie eben PseudoApostel, weil sie es fälschlich den Aposteln nachthaten.

In demselben Maasse also, wie Marcion das zu Verbessernde, wenn es wirklich verderbt war, verbessert haben würde, in demselben Maasse bestätigt er als Thatsache, dass das, was er nicht der Verbesserung für bedürftig gehalten hat, auch nicht verderbt war. Er hat also verbessert, was er als verderbt ansah. Aber auch das nicht einmal mit Hecht, denn es war nicht verderbt. Denn wenn sich die Evangelien der Apostel unverkümmert forterhielten, das des Lukas aber, wie es sich bei uns findet, in bezug auf die Glaubensregel mit den andern so vollständig übereinstimmt, dass es sich mit ihnen zusammen in den Kirchengemeinden forterhält, so steht fest, dass auch das Evangelium des Lukas unverkümmert fortbestanden hat bis zu der sakrilegischen Handlung des Marcion. Dann erst, als er Hand daran legte, traten an ihm Abweichungen und Gegensätze gegen die Schriften der Apostel zu Tage. Ich möchte daher seinen Schülern den Rat geben, auch letztere noch, wenn auch etwas spät, nach der Form des ihrigen umzugestalten, damit es aussehe, als wenn sie sich mit den apostolischen Evangelien in Übereinstimmung befänden, ---- denn sie gestalten ja auch täglich das ihrige um, je nach dem sie von uns gerade widerlegt werden. Oder aber sie sollten sich eines Meisters schämen, der in beiden Beziehungen überführt ist, einmal das echte Evangelium wissentlich bei Seite geschoben, das andere Mal es in unverschämter Weise vernichtet zu haben.

Das ist so ungefähr das abgekürzte Verfahren, dessen wir uns bedienen, wenn wir für die Glaubwürdigkeit des Evangeliums gegen die Häretiker auftreten und aufrecht erhalten, einerseits dass die Zeitfolge gegen die Fälscher als die späteren präskribiere, andererseits dass die Autorität der Kirchengemeinden auf Seiten der Lehre der Apostel stehe. Denn das Echte muss notwendig dem Gefälschten vorangehen und von denen ausgehen, von welchen es gelehrt worden ist.

6. Doch nehmen wir nun eine andere Position ein und berufen uns, wie versprochen, auf das Evangelium des Marcion selber, um auch so zu zeigen, dass es gefälscht sei. Sicherlich hat er seine ganze Ausarbeitung mit Vorausschickung der Antithesen zu dem Zwecke angefertigt, um den Zwiespalt zwischen altem und neuem Testament zu begründen und somit zu beweisen, dass sein Christus mit dem Schöpfergott nichts zu schaffen habe, als Christus eines andern Gottes und dem Gesetz und den Propheten gänzlich fremdartig. Zu diesem Zwecke jedenfalls hat er darin alles seiner Ansicht entgegenstehende, was zu gunsten des Schöpfergottes spricht, als von den Gegnern eingeschoben, getilgt; was aber zu seiner Ansicht passt, das hat er stehen gelassen.

Dieses letztere nun werden wir aufgreifen, daran werden wir uns halten, sobald es uns günstiger ist und den Wahn des Marcion in Trümmer schlägt. Dann wird es sich herausstellen, dass es dieselbe fehlerhafte häretische Blindheit gewesen ist, welche das Eine getilgt und das andere beibehalten hat. Das wird also die Intention und die Form unseres Werkes sein, mit der Bedingung natürlich, die von beiden Seiten aufgelegt wird. Marcion behauptet, der Christus, welcher zur Zeit des Tiberius von einem unbekannten Gott geoffenbart wurde, sei ein anderer als der, welcher vom Schöpfergott zur Wiederherstellung des jüdischen Staates bestimmt worden ist und welcher dereinst erst kommen soll. Zwischen diesen beiden reisst er die Kluft der Verschiedenheit so gross und so allgemein, wie zwischen streng gerecht und gütig, zwischen Gesetz und Evangelium, zwischen Judentum und Christentum. Darauf basiert nun auch unsere Prozesseinrede, kraft deren wir darauf bestehen, dass der Christus des andern Gottes mit dem Schöpfergott nichts gemein haben dürfe, weil er sonst als sein Christus angesehen werden müsste, wofern er nämlich dessen Ratschlüsse ausführte, seine Prophezien erfüllte, seine Gesetze unterstützte, seine Verheissungen verwirklichte, seine Macht wiederherstellte, seine Urteile reformierte, seine Sittlichkeits-Prinzipien und Eigentümlichkeiten zum Ausdruck brachte. Dieser Abmachung und dieses Gesetzes bitte ich den Leser überall eingedenk zu sein und nun die Untersuchung darüber, ob Christus Marcion zugehöre oder dem Schöpfer, zu beginnen.

Hiermit ist Inhalt und Aufgabe des IV. Buches gegen Marcion dargelegt. Von nun an beginnt der detaillirte Nachweis der aufgestellten These an der Hand des von Marcion gekürzten Lucas-Evangeliums und der echten hl. Schrift. Die ganze folgende Auseinandersetzung ist daher, sozusagen, eine Mosaik von Bibelstellen, die nur selten durch eine kurze Erörterung von allgemeinem Interesse unterbrochen ist. Im V. Buche wird dann dasselbe Verfahren an den Marcionitischen Paulusbriefen durchgeführt. Aus diesem Grunde wurde von einer vollständigen Übersetzung dieser beiden Bücher Abstand genommen.


Anmerkungen

1 Is. 2, 3 ff.

2 Is. 51, 4.

3 Indicaverat. Mir scheint iudicaverat wäre dem Zusammenhang angemessener.

4 Ps. 19,8

5 Is. 10, 23. Tertullian übersetzt hier genau nach der LXX Ps. 19, 8.

6 Is. 43, 18 ff

7 Jer. 4,3 ff

8 Jer. 31, 31 (al. 38, 31), Tertullian las dispositionem eorum.

9 Is. 55, 3

10 Malach. 1, 10.

11 Deuter. 32, 39.

12 Is. 45, 7.

13 Mit den notwendigen Schriftstücken zu seinem Ausweise.

14 Öhler interpungiert diesen Satz unrichtig.

15 Vergl. Apok c. 2 und 3. Von den Prozesseinreden c. 30.


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Übersetzt von Heinrich Kellner, 1882.  Übertragen durch Hermann Detering, 2005.


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