SITZUNGSBERICHTE
DER
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHEN CLASSE DER KAISERLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
HUNDERTDREIUNDVIERZIGSTER BAND.
WIEN, 1901.
IN COMMISSION BEI CARL
GEROLD'S SOHN
BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN .
VI.
Kritische Vorarbeiten
für den III. und IV. Band
der neuen Tertullian-Ausgabe.
von
Dr. Emil Kroymann.
Abgesehen von der Sonderüberlieferung des
Apologeticus
lassen sich in der Ueberlieferung des Tertullian,
zeitlich ange-
sehen, drei verschiedene Schichten unterscheiden.
Die
älteste wird handschriftlich vertreten durch den
Par.
lat.1622 saec. IX, gewöhnlich Agobardinus genannt, und
durch
die Ausgaben des Johannes Gangneius, Sigismund
Gelenius,
Jacobus Pamelius, welche entweder (Gangneius) auf
Hand-
schriften verwandter Art basiert sind, oder (Gelenius,
Pamelius)
Lesarten aus solchen am Rande notiert haben.
Diejenigen
Schriften Tertullians, welche ausschliesslich durch diese
Ueber-
lieferung uns erhalten sind, sind vereinigt im ersten
Bande der
neuen Wiener Ausgabe.
Die zweite
Schicht gehört dem 11. Jahrhundert an. Hand-
schriftlich ist sie vertreten durch den Montepessulanus
Nr. 307
und den Paterniacensis Nr. 439 (jetzt in Schlettstadt),
die aber
beide nur einen Teil dieser Ueberlieferung enthalten.
Ergän-
zend treten hinzu die erste Ausgabe des Beatus
Rhenanus
(1521), für welche der Herausgeber ausser dem
Paterniacensis
den jetzt verlorenen Hirsaugiensis benutzte, und seine
dritte
Ausgabe, für welche er noch eine Collation des heute
ebenfalls
verlorenen Gorziensis heranzog. Diejenigen
Schriften, welche
im Montepessulanus und Paterniacensis enthalten sind,
werden
im III. Bande erscheinen.
2 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
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|
Die jüngste
Ueberlieferung endlich ist die des 15. Jahr-
hunderts, vertreten durch die zahlreichen Handschriften
italie-
nischer Bibliotheken, die von mir zurückgeführt
sind auf zwei
Handschriften der Bibl. naz. zu Florenz,1
nämlich die Codd. S.
Marco VI, 9 und VI, 10. Mit letzterem eng verwandt sind
der
Vindobonensis 4194 und der Leydensis 2.2
(Heranzuziehen
sind ausserdem wieder die erste und dritte Ausgabe des
Rhe-
nanus, da sowohl der Hirsaugiensis wie der
Gorziensis ebenso
vollständig waren wie die genannten Handschriften.)
Die-
jenigen Schriften, die ausschliesslich in diesen
Handschriften
überliefert sind, sollen im IV. Bande erscheinen. Für
den
II. Band bleiben also diejenigen übrig, welche zugleich
durch
den Agobardinus und durch diese jüngste Ueberlieferung
auf
uns gekommen sind.
Nachdem das
handschriftliche Material nunmehr so ziem-
lich vollständig beisammen ist,3 wird es, um
für die Textcon-
stitution klare Principien zu gewinnen, darauf
ankommen:
1. das
Verhältnis der jüngsten Ueberlieferung zu
der
mittleren, welche aufs engste zusammengehören,
deutlicher als
es bisher geschehen ist, zu erkennen und den Wert der
ein-
zelnen Handschriften, beziehungsweise Ausgaben für die
Text-
constitution festzustellen;
2. die
zusammengehörige mittlere und jüngste Ueber-
lieferung auf ihr Wesen und ihren Wert an der ältesten,
also
an der des Agobardinus, zu prüfen. .
I.
Als Rhenanus
im Jahre 1521 zum erstenmale den Ter-
tullian in Basel edierte, besass er nach seinem eigenen
Zeugnis
(praef. p. 2 und 3) zwei Handschriften: den Cod.
Paterniacensis4
_____________
1. Sitzungsber.
der Wiener Akad. CXXXVIII, 3.
2. Alle vier enthalten
ausser den im Montep. und Patern. enthaltenen
Schriften noch eine ganze Reihe anderer, die zum Teil
auch im Agob.
stehen.
3. Es fehlt noch die
Collation des Paterniacensis. Die Handschrift
befindet
sich augenblicklich in meinen Händen.
4. Ans dem Kloster
Payerne (Peterlingen) am. Neuenburger See. Heute
befindet er sich in der Stadtbibliothek von Schlettstadt,
wohin er durch
den Decanus Jacob Zimmermann gekommen ist.
|
Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
|
3
|
und den Cod. Hirsaugiensis, aus zwei Bänden bestehend.1
Der
heute noch vorhandene Paterniacensis enthält folgende
Schriften:
de patientia dei, de vera carne domini (= de carne
Christi),
de resurrectione carnis, adversus Praxeam, adversus
Valenti-
nianos, adversus Judaeos, adversus omnes haereses, de
prae-
scriptione haereticorum, adversus Hermogenem. Für
diese
Schriften gründete Rhenanus seine Ausgabe durchaus auf
den
Paterniacensis. :Die Hirsauer Manuscripte, welche diese
Schriften
ebenfalls und ausserdem noch 13 andere enthielten, zog er
hier
nur zur Controle und Ergänzung heran, indem er, wie
die
Handschrift aufweist, Varianten und Ergänzungen des
Hirsau-
giensis am Rande notierte. Die Handschrift ist dann in
die
Basler Presse gegangen und dort abgedruckt, so dass die
Rand-
bemerkungen in der Ausgabe denen der Handschrift
genau
entsprechen. Für die übrigen 13 Schriften: de corona
militis,
ad martyras, de paenitentia, de virginibus velandis,
de habitu
muliebri, de cultu feminarum, ad uxorem libri duo, de
persecu-
tione, ad Scapulam de exhortatione castitatis, de
monogamia, de
pallio und adversus Marcionem war der
Hirsaugiensis die einzige
Quelle, so dass die hier am Rande stehenden Lesarten
durchaus
nur den Wert der Conjectur haben. Im übrigen aber wird
dieser
Teil der Ausgabe als Ersatz des Hirsaugiensis zu gelten
haben.
Als
Archetypus der beiweitem meisten italienischen
Hand-
schriften ergab sich mir der Cod. S. Marco VI, 10, der in
zwei
von verschiedenen Schreibern geschriebene Teile zerfällt
und
die Schriften Tertullians in folgender Reihenfolge
enthält: de
carne Christi, de carnis resurrectione, de corona
militis, ad
martyras, de paenitentia, de virginibus velandis, de
habitu
muliebri, de cudtu feminarum, ad uxorem libri duo, de
perse-
cutione, ad Scapulam, de exhortatione castitatis, de
monogamia,
de pallio - de patientia dei, adversus Praxeam,
adversus
Valentinianos, adversus Marcionem, adversus Judaeos,
adversus
omnes haereses, de praescriptionibus haereticorum,
adversus
Hermogenem -- also in derselben Reihenfolge, wie
sie in der
Hirsauer Handschrift standen.2
Geschrieben ist diese Hand-
_____________
1. Diese hatte er sich durch den in
Wildbad badenden Thomas Rappius
besorgen lassen.
2. Die Schriften de carne Christi und
de carnis resurrectione fallen weg,
da Rhenanus diese ans dem Paterniacensis edierte.
4 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
|
|
schrift laut Unterschrift im Jahre 1426 von zwei
Franziskanern:
Thomas von Lymphen und Johannes von Lautenbach, und
zwar in Pforzheim. Die Beobachtung, dass der
Hirsaugiensis
dieselbe Anordnung der Schriften aufweist wie diese aus
Pforz-
heim stammende Handschrift, welche ich mit F bezeichne,
zu-
sammengehalten mit dem Umstande, dass Pforzheim in
nächster
Nähe des Hirsauer Klosters liegt, liessen mich vermuten,
F sei
vielleicht eine Abschrift der beiden Hirsauer
Manuscripte. Mit
F sind aber durch die engste Verwandtschaft verbunden die
oben genannten Vindobonensis 4194 (V) und Leydensis 2
(L),
welche, wie ich früher nachgewiesen habe,1
auf denselben
Archetypus zurückgehen wie F, und zwar F direct, V und
L durch ein Mittelglied. Dieser Archetypus war laut
Unter-
schrift in F einmal in Pforzheim, und es fragte sich
also, ob
dies der Hirsaugiensis des Rhenanus gewesen sei. Zu ver-
gleichen hatte ich demnach meine Collationen von F V L
mit
der ersten Ausgabe des Rhenanus, welche, wie oben gesagt,
zu einem Teile der Abdruck, wenn auch nicht der genaue
Abdruck des Hirsaugiensis ist (H). Ich machte die Stich-
probe am ersten Buch und den ersten 15 Capiteln des
zweiten
Buches adversus Marcionem. Hierfür liegen über
ausser H F V L
noch zwei andere Handschriften vor, der oben erwähnte
Monte-
pessulanus (M) und die zweite Florentiner Handschrift,
der
cod. Magliabechianus S. Marco VI, 9 (N), die ich
natürlich mit
in die Untersuchung hineinzog. Sie ergab, folgendes
Resultat:
Gemeinsame Lücken.
|
HPVL |
| |
MN |
582, 102 |
natura |
| 592, 30 |
sit |
592, 2 |
Judaorum - deum |
| 607, 36 |
Quis - concupiscet |
592, 27 |
aliquid |
| 611, 14 |
aut |
600, 8 |
evangelii |
| 614, 8 |
hoc |
601, 12 |
ipso |
| 618, |
legi |
604, 15 |
debere |
| 622, 21 |
debuerit |
_____________
1 Vgl. meine
oben genannte Abhandlung p. 26-28.
2 Ich citiere nach Oehler. ed. minor.
|
Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
|
5
|
606, 11 |
deo |
| 625, 23 |
exinde - terra |
616, 3 |
et |
| |
|
617, 20 |
o |
| |
|
620, 25 |
eius |
| |
|
623, 33 |
de |
| |
|
629, 2 |
si |
| |
|
Gleiche Wortstellung.
|
HFVL |
| |
MN |
598, 5 |
probes eum esse |
| |
cum probes esse |
601, 25 |
apostoli sententia |
| |
sententia apostoli |
601, 36 |
a nobis vincula eorum |
| |
vincula a nobis eorum |
603, 11 |
et hic non minus |
| |
non minus et hic |
604, 13 |
divina bonitas in terris |
| |
divina in terris bonitas |
604, 19 |
ratione desertum |
| |
desertum ratione |
608, 32 |
non ut |
| |
ut non |
609, 4 |
fieri noluit |
| |
noluit fieri |
621, 21 |
scilicet dei |
| |
dei scilicet |
623, 2 |
etiam ne |
| |
ne etiam |
624, 33 |
et deliquit ex illo |
| |
et ex illo deliquit |
Gemeinsame Lesarten.
|
HPVL |
| |
MN |
584, 3 |
Ponticos |
| |
Ponticus |
584, 6 |
praenuntiationis |
| |
pronuntiationis |
584, 11 |
obtunsis |
| |
obtusis |
584, 28 |
ostendimus |
| |
ostendemus |
587, 3 |
plura potest duo |
| |
plura post duo |
590, 21 |
indubitato |
| |
indubitate |
591, 1 |
ad hanc causam |
| |
adhuc causam |
593, 20 |
nulla |
| |
nullam |
593, 31 |
res ipsa |
| |
rem ipsam |
594, 14 |
fecit et si |
| |
fecisset et si |
594, 31 |
quos |
| |
quas |
595, 12 |
docens |
| |
dicens |
595, 14 |
araneae |
| |
aranei |
595, 23 |
suos |
| |
suo |
595, 29 |
caelo |
| |
caelum |
596, 1 |
substantia |
| |
substantiam |
6 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
|
|
596, 7 |
a XII |
| |
a XV |
596, 31 |
in substantia |
| |
substantiam |
597, 1 |
et siccis |
| |
et sucidis |
598, 5 |
per quem |
| |
per quae |
598, 11 |
deducta |
| |
deductus |
599, 1 |
deinde negas |
| |
dehinc nega |
600, 15 |
inconcussam |
| |
inconclusam |
602, 24 |
haeretice |
| |
haeretici |
603, 6 |
obvenientia |
| |
obventicia |
603, 18 |
si non potest |
| |
se non potest |
604, 1 |
sicut |
| |
si ut |
604, 24 |
cum ergo |
| |
cur ergo |
606, 4 |
qui salvos |
| |
quos salvos |
606, 24 |
debui |
| |
debuit |
606, 36 |
bonitate |
| |
bonitatis |
607, 10 |
perfecta est Alia |
| |
perfecte. Alia |
609, 21 |
ut |
| |
et |
609, 37 |
diligitur |
| |
diligetur |
610, 12 |
circum furenteis |
| |
circi furentis |
Die
Zugehörigkeit von F V L zum Hirsaugiensis und von
N zum Montepessulanus ist damit erwiesen. Dennoch kann F
keine directe Abschrift des Hirsaugiensis sein. Denn
ausser
den oben angeführten Lücken weisen F und V L noch 38
ge-
meinsame Lücken auf, die der Hirsaugiensis nicht hatte.
Dies
zwingt zu der Annahme, dass der Hirsaugiensis zunächst
in
dem ehemaligen Franziskanerkloster1 zu
Pforzheim abge-
schrieben und dass dann zur Zeit des Basler Concils von
dieser Abschrift wieder zwei Abschriften genommen wurden,
deren eine unsere Florentiner Handschrift ist, während
die
andere, die ebenfalls nach Italien kam, selbst verloren
ging,
aber noch in V L (beide italienischer Provenienz)
weiterlebt.2
_____________
1. Herr Prof. Stelzner Pforzheim teilt
mir gütigst mit, dass die Franzis-
kaner sieh bereits um 1270 in Pforzheim ansiedelten. Nach
dem Basler
Concil wurde das Kloster durch Nicolaus Coroli von
Heidelberg refor-
miert. Den Mönchen wurde ein Capital von 400 fl. zur
Anschaffung von
Büchern gewährt. Sie scheinen dies Vermögen also durch
Abschreiben
von Handschriften ihrer Bibliothek vermehrt zu haben.
2. Wenn p. 605, 30 Rhenanus das Wort
ipsius nicht hat, welches in F V L
erscheint, so ist das offenbar Schuld des Setzers.
|
Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
|
7
|
Also ist F ein Enkel, V L Urenkel des Hirsaugiensis, und
dem-
gemäss sehen wir denn auch die Corruption des Textes in
V L
noch ein gut Stück weiter fortgeschritten wie in F. Da
wir
nun den Hirsaugiensis, freilich nicht ohne Aenderungen,
in der
Ausgabe des Rhenanus erhalten haben, so scheiden V L
fortan
aus dem kritischen Apparat aus,1 während wir
F als Controle
des Rhenanus überall da heranziehen werden, wo wir
darüber
im Zweifel sind, ob wir es mit Ueberlieferung oder mit
Con-
jectur zu thun haben.
Die dritte
Ausgabe des Rhenanus vom Jahre 1539 be-
zeichnet einen nicht unerheblichen Fortschritt. Es war
ihm,
wie er im Vorwort mitteilt, nach langem Bemühen
gelungen,
eine Collation der Handschrift von Gorze zu erhalten, 'dili-
gentia ac dexteritate Huberti Curtinei, viri cum pietate
tum
eruditione excellentis, adiuvante Domenico Florentino
sodali
peractam.'
Dieser
Gorziensis enthielt sämmtliche Schriften, die im
Cod. N enthalten sind,2 und seine Spuren sind
in den Annota-
tiones, die Rhenanus jeder Schrift vorausschickte,
erhalten. Auf
Grund der vielfachen Uebereinstimmungen zwischen diesem
Gorziensis und N glaubte ich früher3
wahrscheinlich machen
zu können, dass N eine Abschrift dieses heute verlorenen
Gor-
ziensis sei. Eine genügend gegründete Ansicht über das
Ver-
wandtschaftsverhältnis dieser beiden Handschriften zu
gewinnen,
ist aber dadurch sehr erschwert, dass wir jene Collation
des
Gorziensis, die für Rhenanus gemacht wurde, nicht mehr
be-
sitzen. Ausserdem lässt sich nicht beurteilen, bis zu
welchem
Grade sie sorgfältig war und wieweit es dem Rhenanus be-
liebte, ihr zu folgen. Es hat sich mir bei näherer
Prüfung er-
geben, dass seine Bemerkungen darüber in den
Annotationes
ganz unvollständig sind. Denn es erscheinen in der
dritten
_____________
1. Also ist die Zeit, die ich im
Vertrauen auf die früheren Herausgeber
auf die Collation dieser beiden Handschriften verwendete,
leider ganz
vergeudet gewesen.
2. Wenn vor dem Apologeticus die
Annotationes ganz fehlen, so bat das
darin seinen Grund, dass Rhenanus diese Schrift aus der
Aldina von
1515 auch hier wieder abdruckte. Er wird also für diese
Schrift auf die
Collation verzichtet haben.
3. Vgl. meine
Abhandlung p. 31.
8 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
|
|
Ausgabe des Rhenanus eine ganze Reihe von ihm nicht
notierter
neuer Lesarten, die er sicher nicht der Conjectur,
sondern
seiner Collation des Gorziensis verdankt. Es war also
not-
wendig, die dritte Ausgabe mit der ersten und dann die
Er-
gebnisse dieser Collation mit der Ueberlieferung der
Hand-
schriften N und M zu vergleichen. Dabei ergab sich
zunächst,
dass, wie ich schon geschlossen hatte, der Gorziensis
zweifellos
aufs engste verwandt ist mit der durch N M vertretenen
Ueber-
lieferung. Als Beweis diene die folgende Zusammenstellung
von
Varianten aus den ersten 25 Capiteln des ersten Buches
adv.
Marcionem.
p. 582, 10 |
Pontus qui igitur Euxinus
negatur, nomine
illuditur H F
Pontus qui igitur Euxinus natura
negatur
nomine illuditur G M N. |
p. 584, 26 |
de bono praestruendo RF
de bono praeferendo G N
de bono praestru ferendo M. |
p. 587, 12 |
quae H F
qua G N M. |
p. 592, 2 |
Judaorum enim deum dicunt
animae deum
GNM
om. H F. |
p. 592, 6 |
a certo certus H F
a certo incertus G N M. |
p. 592, 27 |
aliquid G N M
om. H F. |
p. 593, 21 |
nulla H F
nullam G N M. |
p. 598, 13 |
deducta H F
deductus G N M.1 |
p. 600, 8 |
evangelii G N M
om. H F. |
p. 600, 11 |
indicantur H (indueantur F)
indurantur G N M. |
_____________
1. Im Texte steht zwar deducta, doch
bemerkt Rhenanus in den Annota-
tiones, dass der Gorziensis deductus habe.
|
Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
|
9
|
p. 600, 25 |
tibi H F
tibi scilicet M N
scilicet tibi G. |
p. 600, 35 |
susceptam H F
suspectam G N M. |
p. 601, 12 |
ipso G N M
om. HF. |
p. 604, 1 |
Sicut H F
Si ut G N M. |
p. 606, 29 |
debui H F
debuit G N M. |
p. 606, 36 |
bonitate H F
bonitatis G N M. |
p. 607, 12 |
perfecte deum ostendere HF
perfecte bonum ostendere G N M. |
p. 607, ult. |
Quis volet, quod non
concupiscet H F
om. G N M.1 |
Beweist mir
diese Reihe übereinstimmender Lücken und
Lesarten die Zugehörigkeit von G zu NM, so scheinen doch
wieder andere Umstände diesem Ergebnis zu widersprechen.
Zunächst erscheint die vielfach von H F abweichende
Wort-
stellung von N M in der dritten Ausgabe des Rhenanus in
keinem einzigen Falle, wie sich aus folgender Zusammen-
stellung ergiebt.
p. 598, 5 |
eum probes N M
probes eum F Rhen. I und III. |
p. 601, 36 |
a nobis vincula eorum N M
vincula a nobis eorum F Rhen. I und III. |
p. 603, 11 |
non minus et hic N M
et hic non minus F Rhen. I und III. |
p. 604, 1 |
divina in terris bonitas N M
divina bonitas in terris F Rhen. I und III. |
p. 600, 25 |
tibi scilicet M N
scilicet tibi Rhen. III.2 |
_____________
1. Auf die Autorität des Gorziensis hin
lässt Rhenanus in der dritten Aus-
gabe diese Worte weg.
2. Rhen. 1 hat scilicet überhaupt
nicht. In den Annotationes steht als Les-
art des Gorziensis ausdrücklich scilicet tibi.
10 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
|
|
An zwei
Stellen finden wir sogar Lücken, welche der
Hirsaugiensis hatte, nicht ausgefüllt, obwohl NM das
fehlende
Wort aufweisen:
p. 604, 14
Aliam illi regulam praetendo, sicut naturalia
ita rationalia esse [debere NM] in deo omnia.
p. 606, 11
Quem enim iudicem tenes, dispensatorem si
forte bonitatis ostendis intellegendum, non profusorem,
quod tuo
[deo N M] vindicas.
Endlich
vermissen wir bei Rhen. III eine Reihe von
Varianten, und zwar guten, welche wir gemäss der engen
Verwandtschaft von G mit N M bei ihm zu finden erwarten
sollten:
p. 594, 9 |
praesignavit N M
praesignaverit Rhen. I und III. |
p. 595, 12 |
dicens N M
docens Rhen. I und III. |
p. 595, 7 |
aranei N M
araneae Rhen. I und III. |
p. 599, 1 |
de hinc N M
deinde Rhen. I und III. |
p. 600, 28 |
currisset N M
cucurrisset Rhen. I und III. |
p. 601, 35 |
praececinerat N M
praecinuerat Rhen. I und III. |
p. 603, 6 |
obventicia N M
obvenientia Rhen. I und III. |
Aus diesem
Thatbestande schliessen zu wollen, dass der
Gorziensis in allen diesen Dingen eben nicht mit N M
überein-
gestimmt hätte, wäre indes falsch. Schuld daran ist
zweifellos
einerseits die Collation, die nicht nach den Forderungen
moder-
ner Kritik eingerichtet war, und andererseits Rhenanus
selbst,
der in vielen Fällen der Lesart des Hirsaugiensis den
Vorzug
geben mochte.1 Es ist also klar, dass die
dritte Ausgabe des
_____________
1. Uebrigens geht die Willkür des
Rhenanus in seiner dritten Ausgabe sehr
weit. Er hat der Conjectur hier einen breiten Raum
gewährt und seine
vermeintlichen Emendationen ohne Vermerk in den Text
gebracht. Da
die folgenden Herausgeber hierdurch verführt sind, vage
Vermuthungen
des Rhenanus als Ueberlieferung weiterzugeben, so wird
hier der ge-
|
Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
|
11
|
Rhenanus uns nur ein sehr unvollkommenes Bild von dem
Gorziensis giebt. Um so wichtiger wird uns für die
Textcon-
stitution im IV. Bande der Codex N werden.
Es fragt
sich nun weiter, ob Anhaltspunkte vorhanden
sind, die einen Schluss auf das
Verwandtschaftsverhältnis von
G N M gestatten. Ich glaube zunächst, mit guten Gründen
wahrscheinlich machen zu können, dass N in seinem ersten
Teile (p. 1-134 v.) aus M geflossen ist, sei es nun
direct oder
durch ein Mittelglied. Der Montepessulanus weist nämlich
eine
doppelte Correctur auf, eine von der Hand des Schreibers
selbst und eine zweite von einer andern Hand, die aber
nach
Reifferscheids Urteil ebenfalls alt ist. Dass nun in der
Floren-
tiner Handschrift die Correctur des Schreibers selbst im
Texte
erscheint, wäre natürlich noch kein Beweis für seine
Abhängig-
keit von M, da der Schreiber nach seiner Vorlage
corrigiert,
_____________
eignete Ort sein, durch einige Proben
auf diesen wunden Punkt hinzu-
weisen
p. 583, 3 Sedes (sc. gentium Ponti)
incerta, vita cruda, Libido promiscua
et plurimum nuda; etiam cum abscondunt, suspensis de iugo
pharetris,
ut indicibus notentur, ne qui intercedat. - So die
einstimmige Ueber-
lieferung, die völlig verständlich ist, wenn man die
echt tertullianeischen
Ellipsen nur dem Sinne nach ergänzt: etiam cum
abscondunt (sc. libi-
dinem), suspensis de iugo pharetris (sc. abscondunt), ut
etc. Rhenanus
aber ändert dreist: suspensis de iugo pharetris
indicibus, ne temere quis
intercedat.
p. 589, 5 Id ergo summum magnum, quod
deo adscribimus ex substan-
tiae lege, non ex nominis lege, contendimus ex pari esse
debere in
duobus, qui ea substantia constant, qua deus dicitur,
quia qui in quan-
tum dii vocantur, id est summa magna, substantiae
scilicet merito in-
natae et aeternae ac per hoc magnae et summae, in
tantum non possit
summum magnum minus et deterius alio summo magno haberi.
- Hier
tilgt Rhenanus das qui hinter quia und das et vor summae.
Dass das
letztere unnötig ist, hat schon Rigault gesehen, der es
wieder in den
Text aufnimmt. Aber auch mit der Tilgung des qui hat
Rhenanus
schwerlich Recht; mir scheint es nur seinen rechten Platz
verloren zu
haben, und ich schreibe: qua qui (= aliquis) deus
dicitur, quia etc.
qui = quis s. oben: ne qui intercedat. - Ebenso ist durch
Umstellung,
nicht durch Streichung, zu heilen:
p. 592, 30 Adeo inde auctoritas
accomodata si falsae divinitati, uncle prae-
cesserat verae. Unam sattem cicerculam deus Marcionis
protulisse de-
buerat. - Das si, welches Rhenanus tilgt, ist vor finde
zu setzen und
nach verae gier Punkt in ein Komma zu verwandeln.
12 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
|
|
|
beweisend aber ist, dass auch die Correctur der
zweiten Hand,
welche Conjectur, nicht Ueberlieferung giebt, bei N im
Texte
erscheint. In dem von mir untersuchten Abschnitt ist dies
dreimal der Fall.
590, 37 Si
ita est, ecquid tibi videtur iusta ratione de-
fendi, ut ad normam et formam et regulam certorum
probentur
incerta? - Hiefür bietet M: Si ita e <.. under letter e> (in mg.:
sunt, man. al.
antiqua) haec quid tibi videtur etc. Die Corruptel haec
quid
für ecquid liess den Corrector das est beanstanden und
dafür
sunt einsetzen, so dass er also verstand: si ita sunt
haec, quid
tibi videtur etc. Und eben dies liest man im Codex N
jetzt
im Texte.
596, 7 M: At
nunc, quale est ut dominus a. XV Tiberii
caesaris revelatus sit, anno
substantia vero a.l XV iam Severi im-
peratoris nulla omnino comperta sit. Es kann kein Zweifel
darüber bestehen - obwohl kein Herausgeber darauf
gekommen
ist, dass das mit einem Punkt versehene a
nicht die Präpo-
sition, sondern die Abkürzung für anno ist,
womit uns das
thörichte ad des Pamelius erspart bleibt. Aber schon der
Cor-
rector von M fasste es als Präposition und ergänzte
folge-
richtig anno, welches er überschrieb. In N steht
dies Wort
denn auch im Texte. Im Gorziensis dagegen dürfte es
nicht
gestanden haben, da es auch in der dritten Ausgabe des
Rhe-
nanus nicht erscheint.
595, 34
Rosam tibi si obtulero, non fastidies creatorem;
hypocrita, muta porrocaracte [XXXX
over rocara] re [circumflex over re] si probes te
Marcionitam. Nach
dem ausdrücklichen Zeugnis des Rhenanus bot hier der
Gor-
ziensis : hypocritam ut apocarteresi grobes te
Marcionitam, etc.,
wäs ohne Zweifel Tertullian geschrieben hat, nur dass
mit
Rhenanus der Accusativ hypocritam in den Vocativ zu
ändern
ist. Was wir jetzt in M lesen, ist Correctur der zweiten
Hand,
und Reifferscheid glaubte darunter noch deutlich die
Lesart
des Gorziensis zu erkennen. In N aber lesen wir im
Texte:
hypocrita, muta porro caracterem si etc. Ein weiteres
Beispiel
fand ich in der Schrift de carne Christi p. 918, 24. Hier
bietet
M : Oro vos, si dei Spiritus [filivs over Spiri] non de vulva carnem
participaturus
_____________
1. Hierfür führt Pamelius ad
ein, und Oehler ist ihm gefolgt.
|
Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
|
13
|
descendit in vulvam, cur descendit in vulvam? Das über-
geschriebene filius stammt, nach Reifferscheids Urteil,
von einer
dritten Hand saec. XIII oder XIV; in N erscheint es unter
Weglassung von Spiritus im Texte.1 Damit aber
wird es so
gut wie sicher, dass N nicht nur auf M zurückgeht,
sondern
eine Abschrift von ihm ist, und wenn nun in N noch
weitere
17 Schriften erscheinen, so wird der Schluss erlaubt
sein, dass
auch der Montepessulanus ebenso wie der Gorziensis aus
zwei
Teilen bestand, deren letzter aber verloren ging. Ob der
Gor-
ziensis ebenfalls aus diesem ehemals vollständigen
Montepessu-
lanus stammt, lässt sich bei unserer lückenhaften
Kenntnis der
Handschrift nicht beweisen. Soweit aber diese reicht,
giebt es
nach meinen bisherigen Beobachtungen keine Instanz
dagegen,
und so halte ich denn fürs erste auch den Gorziensis
für eine
Abschrift von M die aber gemacht sein muss, bevor der
zweite
Corrector von M seine Aenderungen eintrug.
Dagegen
kann der Paterniacensis nicht aus M stammen,
obwohl im übrigen diese beiden Handschriften fast aufs
Wort
übereinstimmen. Denn in den 11 Capiteln de Carne
Christi,
woran ich die Stichprobe machte, weist P gegenüber M an
fünf Stellen ein Mehr auf.2 Im Uebrigen aber
ist die Ueber-
einstimmung so vollständig, dass P als ein Bruder von M
an-
zusehen ist, aus demselben Archetypus geflossen, und da
in P
vier Schriften stehen, die M nicht aufweist, so ist das
eine
neue Bestätigung dafür, dass jener Archetypus unsere
Ueber-
lieferung vollständig enthielt. Das Verhältnis des
Hirsaugiensis
zu M P oder besser zu ihrem Archetypus zu bestimmen,
stösst
deshalb auf Schwierigkeiten, weil Rhenanus für die
Schriften,
welche H mit M P gemeinsam hatte, durchaus dem Pater-
niacensis folgt, während er über H nur am Rande Notizen
macht. Bis jetzt habe ich in M P keine gemeinsame Lücke
gefunden, welche durch H ergänzt würde, wodurch ja
freilich
der Ursprung von H aus dem Archetypus von M P ausge-
schlossen würde. Deshalb möchte ich vorerst es als
wahr-
scheinlich hinstellen, dass auch der Hirsaugiensis ein
Abkömm-
_____________
1. Da dies auch bei Pamelius gedruckt
steht, so dürfte er N benützt haben.
Doch wird das noch näher zu untersuchen sein.
2. p. 919, 15
eam. p. 913, 5 filio.
p. 920, 2 quasi. p. 920, 5 a. i. ut.
p. 921, 2 et. M gegenüber P an einer
ganzen Reihe von Stellen.
14 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
|
|
|
ling des Archetypus von M P ist. Wenn H den
Handschriften
M und P gegenüber eine sehr beträchtliche Anzahl von
Ab-
weichungen aufweist, so ist das erstens aus dem Umstande
er-
klärlich, dass dieser Codex, wie man aus des Rhenanus
Rand-
bemerkungen ersieht (vgl. z. B. p. 2), durchcorrigiert
war,
andererseits daraus, dass man zwischen jenem Archetypus
und
H noch ein Mittelglied zu statuieren haben wird.
Denn dass
der Hirsaugiensis jedenfalls jünger war als der
Paterniacensis,
ersieht man schon daraus, dass Rhenanus, wo es möglich
war,
den letzteren seiner Ausgabe zu Grunde legt. Ausserdem
be-
sagt eine Vorbemerkung zu dem alten Katalog von Hirsau
(Becker, p. 100, 4), dass fast alle Handschriften des
Klosters
unter den Aebten Wilhelm, Bruno, Vollmar und Manegold ge-
schrieben seien, d. h. in dem Zeitraume von 1077-1167.
Wir
werden also nicht irregehen, wenn wir den Hirsaugiensis
dem
12. Jahrhundert zuweisen.1
Angesichts
dieser Ergebnisse musste sich mir von selbst
die Frage aufdrängen, wo wohl diese gemeinsame Quelle
un-
serer Handschriften, welcher ein sehr grosser Teil
tertullianei-
scher Schriften seine Erhaltung verdankt, zu suchen sei.
Nun
sind sowohl Peterlingen (Paterniacum) wie Gorze und
Hirsau
cluniacensische Gründungen oder wenigstens von Cluny
beein-
flusst, und deshalb lag es nahe, diesen Archetypus in der
reichen ehemaligen Klosterbibliothek von Cluny zu suchen.
Diese Vermutung hat sich denn auch nicht als irrig
erwiesen.
In dem bei Delisle2 abgedruckten alten
Bibliothekskatalog von
Cluny (1158-1161), auf welchen mich Ernst Sackur hinzu-
weisen die Güte hatte, finden wir unter Nr. 73 und 74
Fol-
gendes notiert:
Nr. 73.
Volumen, in quo continentur libri Tertulliani de-
cem ad diversos et apologeticum eius.
Nr. 74.
Volumen, in quo continentur eiusdem libri XVII.
Dies sind
aber ohne Zweifel keine anderen Schriften als
die, welche uns vereinigt in dem Florentiner Codex N vor-
liegen, und die auch dessen Vorlage M wahrscheinlich
einmal
_____________
1. Sollte sich diese meine Annahme im
weiteren Verlaufe meiner Arbeiten
nicht halten lassen, so müssen jedenfalls der Archetypus
von M P und
der von H Brüder gewesen sein.
2. Inventaire des manuscrits de la
bibliothèque nationale.
|
Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
|
15
|
vollzählig enthielt. Denn M und der erste Teil
von N ent-
halten in der That ausser dem Apologeticus 10 Schriften
des
Tertullian, wenn man die Schrift adversus Marcionem als
fünf
Bücher rechnet, und dass es dieselben Schriften waren,
be-
weist der Zusatz ad diversos. Und ebenso enthält auch
der
zweite Teil von N, wenn man die Schrift ad uxorem als
zwei
Bücher zählt, genau 17 Schriften. - Der Archetypus der
ge-
summten Tertullianüberlieferung des 11. und 15.
Jahrhunderts
lag also noch im 12. Jahrhundert in zwei Bänden auf der
Klosterbibliothek zu Cluny, und aus M N wissen wir,
wie die
Schriften Tertullians auf diese beiden Bände verteilt
waren.1
Dass aber gerade cluniacensische Aebte es gewesen sind,
welche
das Gedächtnis eines Mannes, den bis dahin die
abendländische
Theologie auch nur zu nennen sich scheute, der Nachwelt
er-
halten haben, giebt doch in der That zu denken. Es erhebt
sich natürlich die Frage: Woher hat Cluny diesen Schatz,
von dem uns vor dem 11. Jahrhundert, wie es scheint, nur
einmal eine Notiz Kunde giebt. In einem alten
Bibliotheks-
katalog saec.X des Klosters Lorch2 (coenobium
Laurisheimense)
wird aufgeführt: Libri Tertulliani presbyteri : de
patientia lib. I
de carnis resurrectione lib. I Adv. Marcionem lib. V de
carne
Christi lib. I in uno codice. Weiterhin: liber
Tertulliani pres-
byteri und item alius liber Tertulliani. Endlich: item
libri Ter-
tulliani in alio codice. - Zählt man nämlich zu den
Schriften
des erstgenannten Codex, welche ja alle im ersten Teile
von
N und in M stehen, die beiden folgenden in je
einer Hand-
schrift überlieferten hinzu, so ergiebt sich wiederum
die Zahl
zehn; der letztgenannte Codex könnte dann in der That
die
anderen siebzehn Schriften enthalten haben, die einzeln
aufzu-
zählen dem Verfasser des Katalogs zu umständlich war.
Aber
abgesehen davon, dass dies eben Vermutungen sind, würde
uns, auch wenn sie richtig wären, jedes Mittel fehlen,
zu be-
_____________
1. Die veränderte Ordnung der Schriften
im Paterniacensis und Hirsau-
giensis hat wohl nur den praktischen Grund, den Umfang
der beiden
corpora, der sehr ungleich war, mehr auszugleichen. Denn
auch der
Paterniacensis dürfte einmal einen zweiten Teil gehabt
haben.
2. Becker, Cat, ant. 37, 320 und 321,
385 und 386. Mai, Spic. Rom. V,
186. Vgl. die Bemerkungen des Rhenanus hierzu, Oehler, praef. p. XVII.
16 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
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|
|
stimmen, ob Lorch von Cluny1 oder Cluny von
Lorch oder
auch ob beide anderswoher ihren Schatz bekommen haben.
Das eigentliche Problem, wie es überhaupt möglich war,
dass
die Schriften des Häretikers sich bis in jene Zeit
gerettet
haben, hat Harnack richtig gestellte2 und als
das einzige Mittel,
es zu lösen, mit Recht das Studium der fränkischen
Theologen
des 9. Jahrhunderts bezeichnet. Aber es gesellt sich zu
diesem
Problem, wie ich im zweiten Teile dieser Untersuchung
wahr-
scheinlich machen werde, noch ein anderes, wie es
nämlich
möglich war, dass trotz des Verdammungsurteiles der
Kirche
sogar eine Ausgabe von Werken Tertullians entstehen
konnte;
denn, eine solche stellt meines Erachtens die
Ueberlieferung
von Cluny dar.
II.
Dass in der That die Ueberlieferung von Cluny ihrem
Wesen nach etwas anderes ist als die des Agobardinus,
lässt
zunächst die verschiedene Anordnung der Schriften in
beiden
erkennen. Zur Veranschaulichung stelle ich die
Reihenfolge
der Schriften in beiden Ueberlieferungen hier
nebeneinander:
Agobardinus |
| |
Florentinus N |
Ad nationes libri
II |
| |
De patientia |
De praescriptione
haereticor. |
| |
De carne Christi |
Scorpiace |
| |
De carnis
resurrectione |
De testimonio
animae |
| |
Adversus Praxeam |
De corona |
| |
Adversus
Valentinianos |
De spectaculis |
| |
Adversus Marcionem |
De idololatria |
| |
(Apologeticus) |
De anima |
| |
De fuga |
De oratione |
| |
Ad Scapulam |
De cultu feminarum |
| |
De corona militis |
Ad uxorem |
| |
Ad martyras |
De exhortatione
castitatis |
| |
De paenitentia |
De carne Christi |
| |
De virginibus
velandis |
_____________
1. Die Handschriften von Cluny brauchen
natürlich nicht erst nach der
Gründung des Klosters 910 entstanden zu sein.
2. Tertullian in der Litteratur der alten Kirche,
Sitzungsberichte 1895,
p. 560.
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Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
|
17
|
De spe fidelium |
| |
De habitu
muliebri |
De paradiso |
| |
De cultu earum |
De virginibus
velandis |
| |
De
exhortatione castitatis |
De carne et anima |
| |
Ad uxorem |
De patentia |
| |
De monogamia |
De paenitentia |
| |
De pallio |
De animae
submissione |
| |
Contra Judaeos |
De superstitione
saeculi. |
| |
Adversus
omnes haereticos |
|
| |
De praescr.
haereticor. |
|
| |
Adversus
Hermogenem. |
Während im
Agobardinus Schriften polemischen, apolo-
getischen, dogmatischen und erbaulichen Inhaltes in
buntem
Wirrwarr durcheinandergemengt sind, lässt sich im
Florentinus
unmöglich die ordnende Hand des Sammlers verkennen. Oder
sollte es etwa Zufall sein, dass im zweiten Teile zuerst
vier
Schriften zusammenstehen, welche alle Ereignisse der
Christen-
verfolgung zum Thema haben, dass die vier nächsten
sämmt-
lich fragen der Kirchenzucht behandeln und die drei
folgen-
den wiederum im Wesentlichen dieselbe Frage, nämlich
welche
Forderungen die castitas Christiana stellt, erörtern?
Und wenn
nun auch im ersten Teile, abgesehen von der ersten
Schrift,
nur Schriften polemischen Inhaltes zusammenstehen, so
kann
man, wenn die erste Schrift des ersten Teiles und die
fünf
letzten des zweiten Teiles einer planmässigen Anordnung
zu
widersprechen scheinen, nicht umhin, anzunehmen, dass
durch
irgend einen Zufall die ursprüngliche Ordnung nicht mehr
ganz
innegehalten ist. Wie diese Störung entstehen konnte,
dafür
giebt es eine sehr einfache Erklärung. Ich denke mir die
ur-
sprüngliche Gestalt dieses Corpus Tertullianeum nämlich
so:
De fuga
Ad Scapulam
De corona militis
Ad martyras
De paenitentia
De virginibus velandis
De habitu muliebri
De cultu earum
De exhortatione castitatis
Ad uxorem
18 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
|
|
|
De monogamia
De pallio
-------
De patientia
De carne Christi
De carnis resurrectione
Adversus Praxeam
Adversus Valentinianos
Adversus Marcionem1
-------
Contra Judaeos
Adversus omnes haereticos
De praescriptione haereticorum
Adversus Hermogenem.
Denken wir uns
nun, dass aus diesem Gesammtcodex der
durch die beiden Striche bezeichnete mittlere Teil, sei
es durch
Loslösung herausfiel, sei es absichtlich herausgenommen
wurde,
um seinen übergrossen Umfang zu verkleinern, so ist
ersicht-
lich, wie nicht Zusammengehöriges zusammen geraten
musste.
War aber die obige Anordnung die ursprüngliche, so haben
wir erstens in den Schriften de pallio und de patientia
wieder
zwei insofern zusammengehörige Schriften, als in ihnen
das
persönliche Moment gleich stark hervortritt, und
zweitens treten
die vier polemischen Schriften des zweiten Teiles in
Zusammen-
hang mit den fünf des ersten Teiles, so dass das Ganze
ohne
Rest aufgeht. Wenn im Paterniacensis die sämmtlichen
polemi-
schen Schriften wieder zusammenstehen, so ist das eben
als
ein Versuch anzusehen, die ursprüngliche Ordnung
wiederher-
zustellen, der aber nur halb gelungen ist, da die Schrift
de
patientia nicht zu dem andern Teile geschlagen ist. Ich
bin
also der Meinung, dass die jetzt vorliegende Trennung
dieser
Ueberlieferung in zwei Corpora ein Spiel des Zufalles
oder ein
Act der Willkür ist, und dass es ursprünglich nur ein
grosses,
nach sachlichen Gesichtspunkten geordnetes Corpus
Tertullia-
neum gab, d. h. aber eine von einem Sachverständigen
herge-
stellte Ausgabe tertullianeischer Schriften. Dass dieses
Corpus
in Frankreich entstanden ist, muss mindestens als
wahrschein-
_____________
1. Die folgende Schrift, der
Apologeticus, war der Sammlung ursprünglich
fremd, wie die Vorschrift in M beweist: Post sex
superiores adpositus
est elegantissimus liber apologeticus de ignorantia dei
in Christo Jesu.
|
Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
|
19
|
lich angesehen werden; die Frage aber, zu welcher Zeit
und
von welchem Manne dies geschehen ist, muss vorläufig in
der
Schwebe bleiben. Mir liegt es zunächst ob, zu
untersuchen, ob
sich die Thätigkeit des Herausgebers auf die blosse
Sammlung
tertullianeischer Schriften beschränkt hat, oder ob sie
zugleich
eine wie auch immer geartete recensio des Textes selbst
dar-
stellt. Die Möglichkeit, diese Untersuchung anzustellen,
ist da-
durch gegeben, dass uns in dem Agobardinus eine von der
cluniacensischen unabhängige Ueberlieferung aufbehalten
ist,
welche nach den bisherigen kritischen Resultaten als eine
im
wesentlichen von absichtlichen Aenderungen freie
Weitergabe
des Textes angesehen werden darf.
Nun ist
aber die Ueberlieferung von Cluny in den Hand-
schriften des 15. Jahrhunderts in der Verderbnis so
erheblich
vorgeschritten, dass die Untersuchung nur von den beiden
Randschriften des 11. Jahrhunderts ausgehen darf. Das
einzige
Stück aber, welches diese beiden Handschriften mit dem
Ago-
bardinus gemein haben, sind die zehn ersten Capitel der
Schrift
de carne Christi.1 Diese haben also das
Material für die fol-
gende Untersuchung zu liefern.
Methodisch
war es mir zunächst von Wichtigkeit, festzu-
stellen, ob sich durch irgendwelche unanfechtbaren
Indicien der
Beweis erbringen lasse, dass beide Ueberlieferungen am
letzten
Ende auf denselben Archetypus zurückgehen, womit ich
natür-
lich nicht das Originalmanuscript des Schriftstellers
meine.
Denn wenn sich dieser Beweis erbringen liess, so war die
Kritik insofern auf einen sichereren Boden gestellt, als
die
Frage einer etwaigen zweifachen Ausgabe seitens des
Schrift-
stellers - denn hiermit müsste bei Tertullian gerechnet
wer-
den - gegenstandslos würde.
Als solche
Indicien können nur solche gemeinsame Ver-
derbnisse des Textes angesehen werden, die sich einzig
und
allein aus einer gemeinsamen, schon verderbten Quelle
erklären
lassen, ich meine besonders in den Text gedrungene
Glossen
und Interpolationen.2 - Für beide aber kann
ich aus den
ersten zehn Capiteln de carne Christi mehrere Beispiele
auf-
_____________
1. In Capitel 10 bricht der Agobardinus
ab.
2. Dass es deren im Agobardinus giebt, glaube ich in
meiner Dissertation:
Quaestiones Tertullianeae criticae
(vgl. p. 117) nachgewiesen zu haben.
20 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
|
|
|
weisen, die, wie ich meine, bei Kundigen nicht auf Wider-
spruch stossen werden.
p. 425,
11 Marcion, ut carnem Christi negaret,
negavit
etiam nativitatem, aut ut nativitatem negaret, negavit et
car-
nem, scilicet ne invicem sibi testimonium responderent
(ita A.
- M P testimonium redderent responderent). Der Sinn ist
un-
zweifelhaft: damit nicht nativitas und caro gegenseitig
für ein-
ander Zeugnis ablegen. Hiefür ist bei Tertullian der
terminus
technicus: respondere,1 wofür Oehlers Index
Beispiele genug
aufweist. Ein Accusativ testimonium ist dabei wegen der
unten
angeführten eigentlichen Bedeutung des respondere ganz
un-
erträglich. Wie er in den Text gekommen ist, lehrt uns
die
Ueberlieferung von MP: das testimonium redderent war als
Glosse dem responderent übergeschrieben; in A ist sie
zum
Teil, in M P ganz in den Text gedrungen.
p.426,
11 Plane nativitas (Christi) a Gabriele
adnun-
tiatur. Quid illi cum angelo creatoris ? Et in virginis
uterum
conceptus inducitur. Quid illi cum Esaia profeta (profeta
om.
M P) creatoris? Dem cum angelo creatoris entspricht nur
ein:
cum profeta creatoris ; der aufdringliche Zusatz Esaia
beleidigt
jedes Stilgefühl. Dass ein Verderbnis vorliegt,
bestätigt die
andere Ueberlieferung, welche profeta weglässt, aber
Esaia bei
behält. Hier hat also die Glosse sogar das Richtige
verdrängt,
während es sich in A in den Text eingeschlichen hat.
p. 435,
13 Fuit itaque phantasma post
resurrectionem,
cum manus et pedes suos discipulis inspiciendos offert,
aspicite,
dicens (ita M P. - A inquit dicens), quod ego sum. - Um
die beiden Teile des Satzes enger zu verbinden, hatte
jemand
das losere, aber bei Tertullian sehr beliebte inquit
durch di-
cens verbessern wollen. In A drang es nur in den Text, in
M P verdrängte es das Richtige.
439,
12 Sed2 temptandi gratia
nuntiaverunt ei (sc. Christo)
matrem et fratrem, quos non habebat. Hoc quidem scriptura
non dicit, alias non tacens, cum quid temptandi gratia
factum
est erga eum. 'Ecce,' inquit, 'surrexit legis doctor
temptans
eum,' et alibi : 'et accesserunt ad eum pharisaei
temptantes
_____________
1. Der Aasdruck ist juristisch;
respondere eigentlich: 'hier' rufen vor Ge-
richt, um sich zu verantworten und zu
verteidigen.
2. Einwurf des Gegners.
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Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
|
21
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eum'. Quod nemo prohibebat hic quoque significari
[temptandi
gratia factum]. Die eingeklammerten Worte geben
ausdrück-
lich das, was mit dem Relativum quod - und zwar durchaus
eindeutig nach dem Vorhergehenden - kurz ausgedrückt
ist.
Dass dies nebeneinander nicht erträglich ist, hätten
eigentlich
die früheren Herausgeber sehen sollen.
Ich
beschränke mich auf diese vier Stellen (obwohl ich
noch mehr als eine für interpoliert halte), weil sie mir
nicht.
anfechtbar erscheinen, und weil sie zum Erweise meiner
Be-
hauptung hinreichen. Der Herausgeber des Corpus hat also
wenigstens für diese Schrift seinen Text auf eine
Handschrift ge-
gründet, welche auf dasselbe bereits verderbte Exemplar
zurück-
geht, aus dem such der Agobardinus geflossen ist, d. h.
aber,
die Sammlung ist in einer Zeit zustande gekommen, in
welcher
die Ueberlieferung bereits nicht mehr intact war, also
jeden-
falls nicht allzu bald nach dem Erscheinen der Schriften.
Wie hat
nun, das ist die weitere Frage, der Sammler des
Corpus mit der Ueberlieferung geschaltet? Dass diese
Ueber-
lieferung von der des Agobardinus sehr wesentlich
verschieden
ist, darüber hat, nie ein Zweifel geherrscht. Ob aber
diese Ab-
weichungen die natürliche Folge einer um zwei
Jahrhunderte
längeren Tradition sind, oder ob sie Merkmale aufweisen,
welche eine einschneidende Correctur erkennen lassen, die
man
dann doch am natürlichsten dem Sammler des Corpus zu-
schreiben wird, das wird jetzt zu untersuchen sein. Der
Ueber-
sichtlichkeit wegen bespreche ich die wesentlichen
Abweichungen
in drei Abschnitten: 1. Auslassungen, 2. Zusätze, 3.
Varianten.
1. Auslassungen.
p. 425,
1 Qui fidem resurrectionis ante istos
Sadducaeo-
rum propinquos sine controversia moratam ita (ita
Rigaltius.
A morata ista. M P moratam) student inquietare, ut etc.
Zweifel-
los richtig hat Rigaltius aus ista ita hergestellt,
welches um
des folgenden ut willen nicht fehlen kann. Wenn dies Wort
in M P ganz fehlt, so liegt der Verdacht nahe, dass der
Sammler
es mit Absicht fallen liess, weil er mit dem corrupten
ista
nichts anzufangen wusste.
p. 427,
3 His opinor consiliis tot originalia
instrumenta
Christi delere, Marcion, ausus es, ne caro eius
probaretur. Ex
22 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
|
|
|
quo, oro te? Exhibe auctoritatem. - Die letzten Worte
lauten
im M P: ex qua, oro te, auctoritate? Das liest sich in
der
That ebenso glatt, wie die Fassung des Agobardinus unge-
wöhnlich klingt, und schon um deswillen würde man M P
stark
misstrauen müssen. Zum Ueberfluss aber rechtfertigt das
Fol-
gende die Lesart des Agobardinus: Si prophetes (M P
propheta)
es, praenuntia aliquid, si apostolus, praedica publice.
Denn
nach der Frage ex qua auctoritate? würde man die Fort-
setzung: ex prophetae? ex apostoli? erwarten, während
um-
gekehrt das exhibe auctoritatem durch die Imperative:
prae-
nuntia aliquid, praedica publice den genau entsprechenden
In-
halt bekommt.
p. 430, 4 -
- quasi nun valuerit Christus eius (eius
om. P M) vere hominem indutus deus perseverare.
Das eius,
welches P M folgend auch Oehler weglässt, bedeutet nach
dem
Vorhergehenden: potentioris dei = dei Marcionis, und ist
nicht
nur am Platze, sondern notwendig. Die Auslassung in M P
ist
aber schwerlich zufällig; denn dass der deus Marcionis
seinen
besonderen Christus hat, ist keine so ganz simple
Vorstellung
und konnte einem naiven Leser sehr wohl unverständlich
sein.
p. 432,
7 Nativitatem reformat (sc. Christus) a
morte
regeneratione caelesti, carnem ab omni vexatione
restituit. A.
Hierfür bieten M P: Nativitate reformata (morte om.)
regene-
ratione caelesti carnem ab omni vexatione restituit. -
Wie
diese Fassung von M P zu Stande gekommen ist, liegt auf
der
Hand. Die Präposition a war mit dem vorhergehenden
refor-
mat zum Participium zusammengeschmolzen, und nun war für
morte kein Raum mehr. Ohne Bedenken hat es daher der
Sammler gestrichen und die beiden Sätze von A zu einem
ge-
macht.
p. 430,
20 Es handelt sich um die Frage,
worauf die
Worte der Schrift: stulta mundi elegit deus sich
beziehen.
Quaere ergo, de quibus dixerit, etsi1
praesumpseris invenisse:2
num erit tam stultum quam credere in deum natura? A. -
Hierfür bieten M P: non erit iam stultum credere in deum
natura. Dass dies ein zurechtgemachter Text ist - den An-
_____________
1. Ich verbinde et und si und ändere
die Interpunction.
2. M P hat te invenisse, schwerlich mit Recht, da
Tertullian bei gleichem
Subject bekanntlich oft den Infinitiv
für den Acc. c. Infin. setzt.
|
Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
|
23
|
lass gab offenbar die Corruptel non für num - ist klar,
und
ebenso klar ist es, dass diese Lesart die Meinung
Tertullians
nicht nur verfehlt, sondern genau ihr Gegenteil
ausspricht.
Denn dass die Worte der Schrift sich auf die Thatsache
der
Geburt Christi beziehen, das eben will Tertullian ja
behaupten.
p. 441,
14 Als Argument dafür, dass
Jesus nicht ge-
boren sei, verwendet der Gegner (Apelles) die Erzählung
Matth. 12, 46 ff., dass Jesus auf die Meldung, seine
Mutter und
Brüder ständen draussen und wünschten mit ihm zu
reden,
entgegnet habe: Wer ist meine Mutter? wer sind meine
Brü-
der? Tertullian verwahrt sich gegen eine solche
Interpretation
und bemerkt dann: Solet etiam adimplere Christus, quod
alios
docet. Quale ergo erat, si docens non tanti facere matrem
aut
patrem (aut patrem om. M P) aut fratres quanti dei
verbum,
ipse dei verbum annuntiata maue et fraternitate
desereret? -
Auch diese Auslassung ist sicher nicht zufällig; ist
doch im
Vorhergehenden nur von der Mutter und den Brüdern die
Rede. Aber sie ist auch ebenso gedankenlos; denn mit den
Worten docens non tanti facere etc. bezieht sich
Tertullian
auf den Befehl Jesu Matth. 19, 29, um seinerseits die
richtige
Interpretation der Frage Jesu: Quae mihi mater, qui mihi
fratres zu geben : Wenn Jesus selbst vorschrieb, das Wort
Gottes höher zu achten als Vater und Mutter und Brüder,
wie
hätte er dann gleich 'Gottes Wort im Stich lassen'
sollen, wo
ihm gemeldet wurde: Deine Mutter, deine Brüder sind da?
- Hier haben wir es also mit einer 'Verbesserung' des
Textes zu thun, welche nicht einmal durch eine schon vor-
handene Corruptel veranlasst ist.
p. 430, 5 Als
einzigen Grund, weshalb Marcion die wirk-
liche menschliche Leiblichkeit Christi leugnet, kann
Tertullian
sich nur den denken, dass er fürchtet, Christus werde
auf-
hören Gott zu sein, wenn er wirklich Mensch werde.
Tertullian
hält dem entgegen, dass eben darin der Unterschied
zwischen
Gott und Mensch liege, dass Gott eine andere Daseinsform
an-
nehmen könne, ohne seine eigene Natur zu verlieren. Auch
die Engel des, alten Bundes, welche den Menschen
erschienen
seien, seien Engel geblieben, obwohl sie vollkommen
mensch-
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VI. Abhandlung: Kroymann.
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liche Gestalt gehabt hätten. Wenn also, so folgert
Tertullian
im Sinne Marcions weiter, die Engel des Demiurgen, des
deus
inferior, dies vermocht hätten, wie viel mehr der
Christus des
deus potentior des Marcion? Dann fährt er fort:
Aut numquid
et angeli illi phantasma carnis apparuerunt?
Sed non audebis hoc dicere. Nam si sic apud te angeli
crea-
toris sicut et Christus, eius dei (ita A. - M P: eiusdem
sub-
stantiae) erit Christus, cuius angeli (M P: angeli bis)
tales, qualis
et Christus.
Um aus der
Klemme, in welche Tertullians Deduction
den Marcion gebracht hat, herauszukommen, könnte dieser
sagen: Die Leiblichkeit jener Engel des Demiurgen war
eben
auch nur ein Phantasma. Aber das wird Marcion nicht
wagen.
Denn wenn auch die Engel des Demiurgen eine caro putativa
annehmen können, so wird auch Christus mit seiner caro
puta-
tiva des Demiurgen Christus sein und nicht der Christus
des
deus potentior Marcions. Es würde damit also Marcions
Grund-
lehre ins Wanken kommen. Diesem durchaus klaren Gedanken
entspricht nur die Lesart des Agobardinus: eius dei erit
Chri-
stus, während das eiusdem substantiae von M P in diesem
Zu-
sammenhange Unsinn ist. Das Wort substantiae ist
interpoliert,
weil eius dei in eiusdem corrumpiert war. Die
Verdoppelung
des angeli in M P giebt zwar den richtigen Sinn, ist aber
nicht
nur unnötig, sondern auch hässlich.
p. 443,
21 - - ceterum quid est sanguis
quam rubens
humor, quid caro quam terra in figura sua (ita A. - P M
conversa in figuras suas). Tertullian will darlegen, dass
der
menschliche Leib seinen Ursprung aus dem feuchten
Erdenklos
(limus) nicht verleugne: Das Blut deute auf die
Feuchtigkeit,
das Fleisch auf die Erde hin, und wenn auch die
Erscheinungs-
form (species qualitatis) eine andere sei, so könne man
doch
das Blut eine 'rote Feuchtigkeit', das Fleisch 'Erde in
seiner
Art' nennen. Die Wendung in figura sua bedeutet dasselbe
wie in suo genere, sua in effigie (de an. 9). Also giebt
die
Lesart des Agobardinus den adäquaten Ausdruck für den
Ge-
danken. Was dagegen eine terra conversa in figuras suas
sein
soll, ist mir unersichtlich. Dass wir es mit einer
dreisten,
vielleicht durch die Corruptel figuras suas veranlassten
Inter-
polation zu thun haben, bedarf keiner weiteren
Erörterung.
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Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
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25
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p. 440,
9 Poterat enim evenire, ut quos illi
nuntiabant foris
stare (stare om. A), ille eos sciret absentes
esse. - Ich glaube
nicht, dass das in M P erscheinende stare ursprünglich
ist, denn
das folgende esse hinter absentes kann zu foris ergänzt
werden.
In einigen
Fällen macht sich in M P ein Bestreben be-
merkbar, durch verstärkende Zusätze einem Ausdruck mehr
Nachdruck zu geben:
p. 433,
20 Crucifixus est dei filius; non pudet, quia
pu-
dendum est. Et mortuus est dei filius, prorsus (prorsus om.
A)
credibile est, quia ineptum est. Et sepultus resurrexit;
certum
est, quia impossibile est. - Durch das in M P
hinzugefügte
prorsus, welches die Herausgeber in den Text aufgenommen
haben, wird nach meinem Empfinden die Schönheit und
Kraft
dieser Worte, welche eine deutliche Steigerung enthalten
(non
pudet - credibile - certum), in unerfreulicher Weise
beein-
trächtigt.
p. 443,
14 Praetendimus adhuc nihil, quod ex alio
accep-
tum sit, ut aliud sit quam id, de quo sit acceptum, ita
in totem
(in totem om. A) aliud esse, ut non suggerat, ende
sit accep-
tum. Der Zusätz in totem ist nicht nur überflüssig,
sondern
streng genommen unlogisch. - Völlig sprachwidrig aber
ist
der folgende verstärkende Zusatz:
p. 437,
15 Mutuum debitum est inter se (inter
se om. A)
nativitati cum mortalitate, was ich nicht zu begründen
brauche.
Der
Uebersichtlichkeit wegen ordne ich sie in drei Gruppen:
1. solche, welche sich als willkürliche Aenderungen
erweisen,
2. solche, die möglicherweise das Ursprüngliche geben,
3. solche,
die mit Sicherheit in den Text aufzunehmen sind.
1. Im
allgemeinen ist zunächst zu bemerken, dass sich
in M P eine Neigung kundgiebt, ungewöhnliche Formen und
Constructionen durch die gewöhnlichen zu ersetzen.
Hierhin
gehört die Ersetzung des Tertullian so geläufigen
Futurums
anstatt des Potentialis durch das Präsens, so p. 433, 20
und
p. 434, 12 est statt erit, p. 439, 9 licet statt licebit,
und die
Ersetzung des ungewöhnlichen singularischen Prädicates
bei
mehreren Subjecten durch das pluralische, so p. 425, 10
retrac-
tantur für retractatur, p. 437, 27 annuntiarentur für
annuntia-
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VI. Abhandlung: Kroymann.
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retur, wo ich beide Male den Singular für wohl statthaft
halte.
Ebendahin gehört auch die Aenderung des Indicativs in
den
Conjunctiv nach cum causale p.442, 13 cum interpretentur,
wo der Indicativ gut tertullianeisch ist und umgekehrt
des Con-
junctiv in den Indicativ nach quod p. 435, 13 aspicite,
inquit,
quod ego sum statt sim.1 Ebenso zu
beurteilen sind endlich
die folgenden Aenderungen : p. 439, 7 Primo quidem
nunquam
quisquam adnuntiasset illi (sc. Christo) matrem et
fratrem eius
foris stare für stantes (A). p. 438, 17 Sed etsi
de materia ne-
cesse fuisset (A fuit) angelos sumpsisse carnem,
vielleicht auch
p. 439, 15 alias non tacens, cum quid temptationis gratia
fac-
tum est circa (A erga) eum.
Indes sind
die Aenderungen dieser Art verhältnismässig
harmlos gegen solche, die sich auf ganze Satzteile
erstrecken
und zuweilen den Gedanken des Schriftstellers völlig
verdun-
keln. Ich lasse die bezeichnendsten Beispiele hier
folgen.
p. 426,
7 Sed et qui carnem Christi putativam
inducit,
aeque potuit nativitatem quoque phantasma confingere.
Für
diese allein verständliche Ueberlieferung bieten M P :
nativitatis
_____________
1. Conjunctiv nach quod z. B. ad
martyras 4, apolog. 7. - Uebrigens mag
hier schon die hieronymianische Uebersetzung - ich bin
mir bewusst,
einen nicht richtigen Ausdruck zu gebrauchen - eingewirkt
haben,
welche den Indicativ hat. Möglicherweise ist von dorther
auch das quia
in den Worten quia Spiritus ossa non habet und wohl
sicher p. 433, 6
das sapientes statt sapientia (ut confundat sapientia
A) eingedrungen.
Ich berühre damit eine sehr wichtige Frage, denn es gilt
ja, die Itala
des Tertullian wieder zu gewinnen. Ich habe dieser Frage
natürlich
eingehende Beachtung geschenkt, bedaure aber sagen zu
müssen, dass
es mir unmöglich scheint, hier zu einem genügend
gegründeten Urteil
zu gelangen. Man kann die Ueberlieferung des 11.
Jahrhunderts an der
des Agobardinus nur an diesem Stück de carne Christi und
an der
Schrift de praescriptione haereticorum prüfen, wo der
Paterniacensis
vorliegt. Beide aber enthalten nur sehr wenige wörtliche
Citate, und
zudem ist es mir nicht einmal sicher, ob der Agobardinus
selbst von
Correcturen der Citate ganz frei ist. So weit ich sehe
aber ist diese
Correctur in M P schon weiter vorgeschritten und vollends
in der Ueber-
lieferung des 15. Jahrhunderts, namentlich in H F. So
wird denn diese
ohnehin schon sehr complicierte Frage durch die
Beschaffenheit unserer
Ueberlieferung noch viel verwickelter, und Corssen
(Bericht über die
lateinischen Bibelübersetzungen, p. 13) wird mit seiner
Befürchtung, dass
hinsichtlich dieses Punktes auch von der neuen Ausgabe
nicht viel zu
hoffen sei, leider Recht behalten.
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Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
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27
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quoque phantasmata confingere. Offenbar ist die
Aenderung
hervorgerufen durch den nicht verstandenen doppelten
Accu-
sativ bei confingere. Was sich aber der, welcher diese
Aende-
rung vornahm, unter dem Plural phantasmata gedacht haben
mag, ist nicht abzusehen,
p. 427,
1 Marcion scheidet die ganze Geburts- und
erste
Kindheitsgeschichte Jesu aus seinem Evangelium aus.
Ironisie-
rend lässt Tertullian ihn diese Athetese begründen: Sed
nec
circumcidatur infans, ne doleat, nec ad templum
deferatur, ne
parentes suos oneret sumptu oblationis, nec in manus
tradatur
Simeoni, ne senex moriturus exinde contristetur (ita A. -
M P:
ne senem moriturum exinde contristet). Der Sache nach
sind
die beiden Lesarten scheinbar nicht wesentlich
verschieden,
und doch ist die Ironie bei der Fassung von A ungleich
schnei-
dender; denn in Wahrheit hat ja der Alte, als er das Kind
sah, sich nicht betrübt, sondern gejubelt, und dieser
Gegensatz
kommt nur bei der Lesart von A zum Ausdruck. Gemacht ist
aber diese Aenderung, um dieses Glied den vorhergehenden
in der Form mehr anzugleichen.
p. 432, 3
Marcion perhorresciert die Geburt und die
fleischliche Leiblichkeit Christi als eines Gottes
unwürdig. Ter-
tullian hält dem entgegen, dass doch eben dieser
Christus den
Menschen, den geborenen und fleischlichen, erlöst, also
doch ge-
liebt habe, und fährt dann fort: Amavit ergo cum homine
etiam
nativitatem, etiam carnem eius. Nihil amari potest sine
eo, per
quod est id (A et) quod est. Aut aufer nativitatem et
exhibe homi-
nem, aut (aut om. M P) adime (A adhibe) carnem et
praesta quem
redemit. Mit Unrecht haben alle Herausgeber die Lesart
des
Agobardinus et für id der jüngeren Ueberlieferung
aufgegeben,
was sich ja freilich glatter liest. Denn im
Vorhergehenden ist
nicht von nativitas, sondern auch von caro die Rede;
ersteres
ist durch die Worte per quod est, letzteres durch quod
est ausge-
drückt. Bei der Lesart id aber wäre von der caro
überhaupt nicht
mehr die Rede. Umgekehrt hat sich im Folgenden
fälschlich
das zweite aut in den Agobardinus eingeschlichen. Denn
das
erste Glied bedeutet: oder (wenn du das leugnest) scheide
die
Geburt aus und schaffe einen Menschen. Mit diesem aut
wird
also der Gegner vor Consequenzen seiner Ansicht gestellt,
die
er nicht ziehen kann. Die beiden Satzteile sind also
einander
28 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
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gleichwertig und schliessen sich nicht aus, was durch ein
zweites auf geschähe. Auch das adime für adhibe haben M
P
richtig erhalten.
p. 432,
18 Quaenam haec stulta sunt? Conversio
hominum
ad culturam (ita A. - M P: hominis ad cultum) veri dei,
re-
iectio erroris, disciplina iustitiae, misericordiae;
innocentiae
omnis? Haec (M P innocentiae? Omnia haec) quidem stulta
non sunt. - Das Wort cultura findet sich bei Tertullian
ziem-
lich selten für cultus, wie es denn in der Bedeutung
'Gottes-
verehrung' erst von den Kirchenschriftstellern gebraucht
zu
sein scheint. Es ist hier also ein weniger
gebräuchliches Wort
durch das üblichere ersetzt. In der letzten Stelle ist
das nicht
so leicht verständliche omnis in omnia verändert und
dann mit
dem folgenden haec verbunden. Die Lesart scheint auf den
ersten Blick annehmbar. Indes ist doch klar, dass
Tertullian,
um nicht weitere Christentugenden einzeln aufzählen zu
müssen,
mit einem umfassenden Ausdruck abschliessen will. Ein
ähn-
licher Ausdruck steht de pud. 20: sanctitas omnis.
p. 433,
5 Sunt plane et alia tam stulta duae
pertinent
ad contumelias et (et om. A) passiones dei. Aut
prudentiam
dicant (M P dicam) deum crucifixum. - Vor passiones
fehlt in
A das et; es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass
passiones
nur ein in den Text gedrungenes Glossem für contumelias
ist,
was M P dann ebenso durch et verbunden hätten wie oben
das testimonium redderent mit responderent. Jedenfalls
ist
die Lesart dicam, welche M P bieten und wohl als Frage
ver-
standen wissen wollen, falsch. Denn das aut hat hier
dieselbe
zurückweisende Kraft wie oben in den Worten: aut aufer
nativitatem.
p. 434,
4 Wenn Geburt und fleischliche
Leiblichkeit
eines Gottes unwürdig sind - so folgert Tertullian im
Sinne
Marcions weiter - wie viel mehr Kreuzigung, Tod,
Begräbnis?
Aber stulta mundi elegit deus, und wer daran glaubt, ist
bene
imprudens und feliciter stultus. Crucifixus (M P natus)
est dei
filius; non pudet, quia pudendum est. Et Mortuus est dei
filius,
credibile est, quia ineptum est. Et sepultus resurrexit;
certum
est, quia impossibile est. Die Lesart natus für
crucifixus kann
unmöglich eine zufällige Corruptel sein. . Wie sie aber
für das
richtige crucifixus eintreten konnte, ist nicht leicht zu
sagen.
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Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
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Vielleicht wirkte noch die Frage p. 433, 8 nach: Quid
magis
erubescendum nasci an mori. Wenn darum geändert wurde,
so wäre das freilich der Gipfel der Gedankenlosigkeit.
Wahr-
scheinlicher scheint es mir noch, dass in der Vorlage M P
das
Particip crucifixus ausgefallen war und nun die Lücke
aufs
Geratewohl ausgefüllt wurde.
p. 433,
22 Christus ist ebenso wahrer Mensch
wie wahrer
Gott. Quae proprietas conditionum, divinae et humanae,
aequa
utique naturae cuiusque (cuiusque om. M P)
veritate dispuncta
est eadem fide et spiritus et carnis (caro M P). Virtutes
spiritus
dei deum (spiritum dei M P), passiones carnem hominis
pro-
baverunt. Die Lesart caro und die Auslassung von cuiusque
erweisen sich als absichtliche Aenderungen. Derjenige,
der sie
vornahm, verstand natura in seiner gewöhnlichen
allgemeinen
Bedeutung und nicht in der hier vorliegenden besonderen
von
conditio (sc. humana et divina), konnte also mit dem
cuiusque
nichts anfangen. Damit wurde aber die zweite Aenderung
caro
notwendig; der Satz eadem fide et spiritus et caro wurde
als
selbständiges, dem vorhergehenden paralleles Satzglied
gedacht,
also die Copula ergänzt. Doch die Correctur erstreckt
sich
noch weiter, geht aber diesmal, wie ich glaube, von einem
wirklichen Fehler der Ueberlieferung aus. Die Sätze:
virtutes
Spiritus dei deum - und passiones carnem hominis probave-
runt sind ungleich gebildet. Zweifellos soll bewiesen
werden,
dass Christus vere deus und vere homo war. Dem entspricht
durchaus das erste Glied. Dem Accusativ deum muss aber
notwendig im zweiten Gliede ein Accusativ hominem ent-
sprechen; anstatt dessen haben wir carnem hominis, und
an-
dererseits entbehren wir zu passiones einen Genetiv,
welcher
dem Genetiv Spiritus dei nach virtutes entspräche. Die
Cor-
ruptel liegt also im zweiten Gliede, und es ist ohne
allen Zweifel
herzustellen passiones carnis hominis
<hominem> probaverunt.
Derjenige, der in M P den Text änderte, empfand sehr
richtig
die unerträgliche Inconcinnität der Sätze; indem er
aber das
zweite Glied für intact hielt, machte er durch seine
Correctur
den Schaden schlimmer als zuvor.
p. 442,
14 Die Anhänger des Apelles
lassen die Welt
durch einen angelus inclitus schaffen, diesen aber dann
über
sein Werk Reue empfinden: Teste igitur paenitentia
institutoris
30 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
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sui peccatum (M P delictum) erit mundus, si quidem omnis
paenitentia confessio est delicti, quia locum non habet
nisi in
delicto. Die Aenderung delictum für peccatum hat ihren
Grund
offenbar darin, dass weiterhin in dem Satze zweimal
delictum
steht. Mit der gleichen Willkür ist kurz vorher nam est
nobis
et ad illos libellus in adversus illos geändert,
vermutlich weil
in den Titeln der polemischen Schriften überall adversus
steht.
p. 442,
19 Caro igitur Christi de caelestibus
structa de
peccati constat (constitit) clementis, peccatrix de
peccatorio
censu, et par (A pars) iam erit eius substantiae id est
nostrae,
quam ut peccatricem Christo dedignantur inducere (ita A.
-
Christus dedignatur induere M P). Mit Unrecht hat Oehler
die Lesart des Agobardinus pars, welche völlig sinnlos
ist, in
den Text aufgenommen, richtig jedoch am Schluss der
Lesart
des Agobardinus den Vorzug gegeben. Denn Christus selbst
hat es mit nichten verabscheut, in die menschliche
Leiblichkeit
einzugehen. Die Variante von M P dürfte vielleicht aus
der
Corruptel induere für inducere herzuleiten sein. - Im
Ueb-
rigen halte ich die Worte id est nostrae, welche die
Verbin-
dung zwischen dem Relativsatz und seinem Beziehungswort
in
unerträglicher Weise unterbrechen, und welches zudem
sehr
aufdringlich ist, für ein Glossem. - Gleich sinnlos wie
die
obige Variante ist eine andere
p. 443,
19, wo wir für utriusque originem
elementi (A)
utrumque originis elementum lesen.
2. Ich
komme nun zu den Varianten, die einen Zweifel
darüber zulassen, ob wir es mit einer willkürlichen
Aenderung
oder mit guter Ueberlieferung zu thun haben.
p. 429,
1 Wenn Christus nicht geboren war, so
durfte
er auch nicht den Anschein erwecken, als sei er geboren.
Quid
tanti fuit, edoce, quoll sciens Christus quid esset, id
se (M P:
esse; wohl einfache Corruptel) quod non erat exhiberet ?
Non
potes dicere: ne, si natus fuisset et hominem vere
induisset,
deus esse desisset, amittens quod erat, dum fit (MP
assumit)
quod non erat. - Es liegt am nächsten, diese Abweichung
auf
eine Glosse zurückzuführen; dann aber könnte diese nur
fit
sein, und wir hätten in M P das Richtige erhalten. Es
lässt
sich dem aber entgegenhalten, dass assumere doch
eigentlich
etwas anderes ist als fieri, und dass es streng genommen
in
|
Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
|
31
|
diesen Zusammenhang nicht passt. Denn aufhören, etwas
zu
sein, muss man nur dann notwendig, wenn man etwas total
anderes wird, nicht aber, wenn man eine neue Daseinsform
zu der bisherigen 'hinzunimmt'. So angesehen, möchte man
das assumit eher als einen Versuch ansehen, eine
ursprüng-
liche Lücke zu ergänzen.
p. 432,
5 Si haec (sc. caro et nativitas) sunt homo,
quem
deus redemit, tu haec erubescenda illi facis, quae
redemit, et
indigna, quae nisi dilexisset, non redemisset.
Nativitatem re-
format a morte regeneratione caelesti, carnem ab omni
vexa-
tione restituit, leprosam emaculat, caecam reluminat (M P
per-
luminat) paralyticam redintegrat, daemoniacam expiat (A
captat),
mortuam resuscitat, et nos illam erubescemus? (ita A. - M
P:
et nasci in illam erubescit?) Dass die Lesart
reluminat den
Vorzug vor perluminat verdient, ist klar. Umgekehrt giebt
uns M P mit expiat sicher das Ursprüngliche für das
verderbte
captat. Sehr schwierig dagegen ist die Entscheidung bei
der
letzten Variante. Denn an sich sind beide Lesarten wohl
ver-
ständlich. Indes sprechen doch gewichtige sachliche
Gründe
dafür, dass Tertullian so geschrieben hat, wie wir in M
P lesen.
Denn der Wechsel des Subjectes in A ist um deswillen be-
sonders auffällig, weil Tertullian fortfährt: Si revera
(sc. Chri-
stus) de vacca aut sue prodire voluisset; vgl. auch das
vorher-
gehende : tu illi haec erubescenda facis. Zudem musste es
auf-
fallen, dass Tertullian nos illam erubescemus
sagt, wo wir doch
tu illam erubesces erwarten sollten. Und endlich
wäre unter
illam nur das vorhergehende caro zu verstehen, nicht auch
nativitas, was hoch gefordert wird, während umgekehrt
durch
das nasci in illam beides zum Ausdruck kommt. Nach
alledem
scheint mir doch die Lesart von M P den Vorzug zu ver-
dienen. - Dass auch im Agobardinus nicht blos mechanische
Trübungen der Ueberlieferung vorliegen, bewies schon
oben
das fälschlich eingeschobene auf p. 432, 6 und die
Aenderung
carnem hominis p. 433, 27, und wird sich auch noch
weiter-
hin bestätigen. Hier wäre natürlich der Anlass zu
dieser ein-
schneidenden Aenderung in der primären Corruptel nos
für
nasci zu suchen.
p. 436,
19 Christus kann ohne Geburt Mensch
geworden
sein, sagt Apelles, weil ja auch die Engel es so geworden
sind:
32 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
|
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|
Agnoscimus quidem ita relatum, sed tamen quale est, ut
alterius
regulae fides ab ea fide, quam impugnat, instrumentum
argu-
mentationibus suis (ita M P. - A argumentorum) mutuetur?
-
Die Lesart der jüngeren Ueberlieferung ist so
bestechend, dass
sie von allen Herausgebern in den Text aufgenommen ist.
Den
noch lässt sich, meines Erachtens, die Lesart von A mit
guten
Gründen als das Ursprüngliche verteidigen. Lassen wir
den
Dativ argumentationibus suis gelten, so wäre es das
Nächst-
liegende, instrumentum allgemein als 'das Rüstzeug' zu
ver-
stehen. Dann aber müssten wir unbedingt den Plural
instru-
menta erwarten. Es kann aber bei Tertullian instrumentum
bekanntlich auch 'die Schrift' bedeuten, und das scheint
hier
zu passen. Aber es scheint auch nur so, denn in Wirklich-
keit 'entleiht' ja Apelles von dem Gegner nicht 'die
Schrift',
sondern aus ihr nur die Gründe für seine häretischen
Ideen.
Also er entleiht dem Glauben, den er bekämpft, den
Apparat
seiner Gründe, d. h. aber auf tertullianeisch:
instrumentum
argumentorum, genau so wie er apolog. 17 von einem
instru-
mentum elementorum redet: Quod colimus deus unus est, qui
totam molem istam cum omni instrumento elementorum de
nihilo expressit. - Hiernach möchte ich also doch A
folgen
und die Lesart von M P für eine willkürliche Aenderung
halten,
die darin ihren Grund haben wird, dass der Aendernde
instru-
mentum als 'Handwerkszeug' verstand und dann einen Dativ
postulieren musste.
3. Endlich
liegt noch ein einziger Fall vor, wo mir nicht
in M P, sondern in A der Text willkürlich geformt zu
sein
scheint.
p. 433,
21 Tertullian hat den Gegner vor die Frage
ge-
stellt, ob er auch die Kreuzigung, den Tod und die
Auferste-
hung Christi für ein phantasma halte. Wenn dem so ist,
sagt
er weiter, so ist unser Glaube ein Blendwerk und unsere
ganze
Hoffnung ein Wahn. Scelestissime hominum, qui
interemptores
excusas dei (nihil enim ab eis passus est Christus, si
nihil vere
est passus),1 quid2 destruis
necessarium dedecus fidei? Quod-
cumque deo indignum est, mini expedit. Salvus sim (so
richtig
_____________
1. Diese veränderte Interpunction halte
ich für notwendig.
2. So schreibe ich mit A. - M P qui, welches die
Herausgeber aufge-
nommen haben.
|
Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
|
33
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A) si non confundar de domino meo: qui mei, inquit;
confusus
fuerit, confundar et ego eius. Alias non invenio materias
con-
fusionis, quae me per contemptum ruboris probent bene im-
prudentem et feliciter stultum. Crucifixus est dei
filius; non
pudet, quia pudendum est. Et mortuus est dei filius;
credibile
est, quia ineptum est. Et sepultus resurrexit; certum
est, quia
impossibile est. Nam (ita A. - M P Sed haec)
quomodo vera
in illo erunt, si ipse non fuit verus, si non vere habuit
in se,
quod figeretur, quod moreretur, quod sepeliretur et
resuscita-
retur, carnem scilicet hanc sanguine suffusam, ossibus
structam
(MP substructam), nervis intextam, venis implexam, quae
nasci
et mori novit, humanam (A: humana) sine dubio, ut natam
(A:
nata) de homine. Ideoque mortalis haec erit in Christo,
quia
Christus homo et hominis filius. - Ich habe mich
vergeblich
bemüht, die Lesart von A : nam quomodo vera in
illa erunt
in irgend einer Weise mit dem Vorhergehenden in einen
logi-
schen Zusammenhang zu bringen, und begreife nicht, wie
ge-
rade hier Oehler dem Agobardinus folgen konnte. Denn dass
dieser Satz die Begründung für das Vorhergehende
enthalten
könnte, ist ausgeschlossen. Oder wer versteht denn
solchen
Zusammenhang: - 'und gestorben ist der Sohn Gottes; es
ist
glaublich, weil es abgeschmackt ist. Und ist aus dem
Grabe
auferstanden; es ist sicher, weil es unglaublich ist.
Denn wie
wird in ihm Wirkliches sein, wenn er selbst nicht
wirklich
war?' Dagegen ist der Zusammenhang durchaus
verständlich,
wenn wir mit M P lesen: Sed haec quomodo in illa vera
erunt?
Denn Tertullian will sagen: Dass Christus gekreuzigt,
gestorben
und begraben ist, ist unglaublich und unmöglich; aber
gerade
deshalb glaube ich daran. Denn Gottes Heilsplan ist eben
Thorheit. 'Wie aber,' sagt er dann weiter, 'kann dieses
(nämlich Kreuzigung, Tod, Begräbnis) in ihm wirklich
sein,
wenn er selbst nicht wirklich war?' - Also: die Thorheit
des
göttlichen Heilsplanes kann mich in meinem Glauben nicht
wankend machen, wohl aber das, was der Gegner ersonnen
hat, um der Thorheit Gottes zu helfen, das bekannte phan-
tasma. Denn wenn Christus selbst und sein Leben und
Leiden
nicht wirklich war, so ist auch mein Glaube ein Wahn. So
ist
also die Stelle nur zu verstehen, wenn wir mit M P: Sed
haec
lesen, womit wir auch zu dem vera ein deutliches Subject
be-
34 |
VI. Abhandlung: Kroymann.
|
|
|
kommen. Wie aber kommt dann in A das nam hinein? Da,
es durch einfache Corruptel nicht entstanden sein kann,
so
bleibt nichts übrig, als es als den missglückten
Versuch der
Ergänzung einer ursprünglichen Lücke anzusehen. - Im
Fol-
genden halte ich auch die Lesart substructam von M P für
richtig, dagegen ist der letzte Teil in M P
zurechtgemacht,
unter der Voraussetzung, dass das Ganze ein Satz sei. Es
ist aber zweifellos nach implexam ein Fragezeichen zu
setzen
und dann mit A zu lesen: Quae nasci et mori novit, humana
sine dubio, ut nata de homine, ideoque mortalis haec erit
in
Christo, quia Christus homo et hominis filius.
Im
Vorstehenden glaube ich das für unsere Frage in Be-
tracht kommende Material im Wesentlichen vollstündig zu-
sammengetragen zu haben.. Stellen wir nun die Frage, ob
uns
in der Ueberlieferung von Cluny mehr vorliege als eine
blosse
Sammlung tertullianeischer Schriften, so muss dieselbe
nach
meiner Meinung bejaht werden. Die Abweichungen, Aus-
lassungen und Zusätze sind so zahlreich und
eigentümlich,
dass man sie unmöglich als eine im Laufe der Zeit
allmäh-
lich erwachsene Summe von Corruptelen ansehen kann. Der
Sammler des Corpus hat vielmehr die ihm überlieferten
Texte
der einzelnen Schriften (denn man wird unbedenklich das
Ur-
teil verallgemeinern dürfen) einer corrigierenden
Durchsicht
unterworfen und hat zum Masstab seiner Kritik sein
eigenes,
freilich durchaus unzulängliches Verständnis des
Schriftstellers
gemacht, welches ihn verführt hat, in ganz
willkürlicher Weise
zu athetieren, interpolieren und conjicieren. Nach der
vor-
liegenden Probe zu urteilen, dürfte er dabei kaum mehr
als
jedesmal eine Handschrift zu Rate gezogen haben, und zum
Teile jedenfalls ist die ihm zu Gebote stehende
Ueberliefe-
rung desselben Stammes gewesen wie die des Agobardinus,
der seinerseits vielleicht den ersten Versuch darstellt,
dem den
Schriften des Afrikaners drohenden Untergange, über
welchen
schon Hieronymus klagt, durch eine Sammlung vorzubeugen.
Wenn das uns erhaltene Corpus Tertullianeum wirklich den
Gesammtbestand der von dem Sammler vereinigten Schriften
darstellt - und diese Frage können wir weder bejahen
noch
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Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
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verneinen - so hat er sicher die im Agobardinus
vorliegende
Sammlung nicht gekannt. Denn von den in ihm erhaltenen
Schriften weist das Corpus nur den geringeren Teil auf,
und
es wäre nicht abzusehen, warum er die anderen von seiner
Sammlung hätte ausschliessen sollen. Ein weiterer Beweis
da-
für, dass die in dem Corpus vereinigten Schriften bis
dahin
ein Einzelleben geführt haben, ist der auffallend
verschiedene
Zustand ihrer Erhaltung. Denn wenn man z. B. die Schrift
de exhortatione castitatis, die uns ja freilich nur in
Hand-
schriften des 15. Jahrhunderts erhalten ist, am
Agobardinus
misst, so ist der Abstand so erschreckend - ich zähle in
M F
in dieser kleinen Schrift nicht weniger als 92 grössere
und
kleinere Lücken - dass man sieht, diese Schrift hat dem
Sammler des Corpus in einem schon viel traurigeren
Zustande
vorgelegen als beispielsweise unsere Schrift de carne
Christi.
Und in demselben Grade nehmen denn hier auch die Inter-
polationen und Aenderungen an Willkür zu. Dass aber
hieran
nicht etwa die um drei Jahrhunderte verlängerte
Weitergabe
des Textes schuld ist, lehrt die Vergleichung anderer
Schriften
derselben Ueberlieferung mit dem Agobardinus, z. B, der
Schrift
de monogamia. Um also zusammenzufassen, was sich auf
Grund
der bisherigen Beobachtungen schliessen lässt, ist der
wahr-
scheinliche Thatbestand folgender: Nachdem bereits einmal
der
Versuch gemacht wurde, die Schriften Tertullians durch
eine
Sammlung vor dem Untergange zu retten, hat, vermutlich in
Gallien, ein anderer Mann, unbekannt mit jenem ersten
Ver-
such, die für ihn erreichbaren, bis dahin vereinzelt
überlieferten
Schriften zu einem Corpus vereinigt, sie nach sachlichen
Ge-
sichtspunkten geordnet und den Text einer durchgehenden
Re-
vision unterzogen. Das Verdienst, dieses Corpus der
Nachwelt
erhalten zu haben, dürfte den Cluniacensern
zuzuschreiben
sein. So bedeutungsvoll aber auch die That des Sammlers
ist,
so unumwunden muss zugestanden werden, dass der Zustand
des uns überlieferten Textes nicht nur durch die Ungunst
der Ueberlieferung, sondern auch durch die Willkür des
Her-
ausgebers beklagenswert ist, wenn auch in den
verschiedenen
Schriften in verschiedenem Grade. - Der Kritik werden
sich
die Verderbnisse des ursprünglichen Wortlautes da, wo
der
Agobardinus nicht zur Controle herangezogen werden kann,
in
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VI. Abhandlung: Kroymann.
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den meisten Fällen entziehen, und auch da, wo sich eine
Cor-
ruptel fühlbar macht, wird die Heilung um so schwerer
gelingen,
je tiefer die welle des Verderbnisses verschüttet ist.
So wird
sich denn der Kritiker diesem Texte gegenüber in der
uner-
quicklichen Lage befinden, dass er zwar weiss, dass hier
eine
'conservative Kritik' übel am Platze ist, und dass er
dennoch
doppelt vorsichtig sein muss, um nicht den Boden ganz
unter
den Füssen zu verlieren. Am leichtesten werden sich
immerhin
noch die durch Interpolation und Glossen entstandenen
Text-
verderbnisse beseitigen lassen, und ausserdem wird man
bei
der Menge der Lücken, durch welche diese Ueberlieferung
entstellt ist, auf ihre Aufweisung bedacht sein müssen,
auch
wenn man nicht die Mittel hat, den verlorenen Wortlaut
sicher
herzustellen.
Was den
Agobardinus betrifft, so bleibt er zwar in allen
Schriften; die er überliefert, die Grundlage der Kritik.
Dass
aber neben ihm die andere Ueberlieferung nicht nur zur
Er-
gänzung seiner zahlreichen Lücken in Betracht kommt,
glaube
ich an mehreren Beispielen gezeigt zu haben. Jedenfalls
wird
jede Variante aufs gewissenhafteste zu prüfen sein, da
auch
diese Ueberlieferung von willkürlichen Aenderungen und
Zu-
sätzen nicht ganz frei ist. In diesem Punkte kann die
Methode
Oehlers, der zwischen beiden Ueberlieferungen hilflos hin
und
her schwankt, nur als Beispiel dienen, wie man es nicht
machen soll.
Noch
schwieriger und undankbarer wird die Aufgabe des
Kritikers da, wo nur des Rhenanus erste Ausgabe (Hirsau-
giensis und dazu die Florentiner Handschrift F) und die
an-
dere Florentiner Handschrift N, das Apographon von M und
endlich die spärlichen Reste des Gorziensis bei Rhenanus
die
kritische Grundlage bilden. Denn es ist
selbstverständlich, dass
die drei Jahrhunderte längerer Ueberlieferung nicht ganz
spur-
los an dem Texte vorübergegangen sind. Mit der
Heranziehung
der Handschrift N, welche ich zum ersten Mal ganz
verglichen
habe, ist hier übrigens gegen früher ein nicht zu
unterschätzen-
der Fortschritt gemacht worden. Man braucht nur die von
mir p. 4-6 gegebene Zusammenstellung ihrer Lesarten mit
denen von H F zu vergleichen, um zu sehen, dass N ein
ent-
schieden glaubwürdigerer Zeuge der Ueberlieferung ist
als H (F),
|
Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
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37
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wenn auch, namentlich wegen der Lücken, keine
Handschrift
der andern entraten kann. Dass in H die Verderbnis weiter
fortgeschritten ist, kommt, wie ich schon oben bemerkte,
wahr-
scheinlich daher, dass zwischen ihr und dem M H
gemeinsamen
Archetypus noch ein Mittelglied zu statuieren ist,
vielleicht der
von Rigault wiederholt notierte Divionensis.1
Es ist eine be-
zeichnende Eigentümlichkeit des Hirsaugiensis, dass in
ihm un-
gewöhnliche Formen durch die gewöhnlichen ersetzt sind,
wie
oben: praecinuerat für präececinerat, araneae für
aranei, und
es ist sehr wohl möglich, dass Rhenanus der Correctur
von
H, die er ausdrücklich bezeugt, allzuviel Vertrauen
geschenkt
hat. Diese Correctur erstreckt sich, wie ich anderweitig
be-
merkt habe, namentlich auch auf die Bibelcitate, und sie
hat
sich auch vor dreisten Interpolationen nicht gescheut.2
Nach
alledem ist es klar, dass unter den kritischen Subsidien
des
IV. Bandes die Handschrift N den ersten Platz
beanspruchen
darf. Es darf indessen nicht verschwiegen werden, dass
auch
diese Handschrift, wie sie die zweite, nicht auf
urkundlicher
Basis ruhende Correctur von M anstandslos in den Text
auf-
genommen hat (vgl., oben p. 12), ausserdem auch manches
_____________
1. Mit Recht betont Oehler praef XIX und XX, dass derselbe
viel mehr
enthielt, als Rigault in seiner Vorrede sagt. Es kann
kein Zweifel sein,
dass er, wie Gorziensis, Hirsaugiensis und N, das
vollständige Corpus
enthielt. Soweit ich bei Oehler gesehen habe, stimmen
seine Lesarten
auffallend mit dem Hirsaugiensis überein. Doch bedarf
diese Frage
noch weiterer Untersuchung.
2. So Capitel 7, Ende. Hier lesen wir in
A M P N : Ceterum ad negandam
nativitatem alius fuisset ei locus et tempus; in F
dagegen: alius ne-
cessarius fuisset, und dieses interpolierte necessarius
hatte auch der
Hirsaugiensis, wie Rhenanus' Randbemerkung beweist. Auch
Glossen
sind hier schon häufiger als in M P N in den Text
gedrungen, so p. 437,
9: comparent velim et causas, ob quas in carnem venerunt
processerunt,
was ebenfalls Rhenanus für den Hiersaugiensis notiert,
und noch
schlimmer adv. Marcionem 25 (p. 77, 30), wo der ganze
Satz: quis volet
quod non concupiscet ohne Zweifel ein Glossem zu den
vorhergehenden
Worten ist, welche genau dasselbe in prägnanterer Form
ausdrücken.
In F sind der Interpolationen übrigens noch mehr als in
H, z. B.
p. 431, 16: amavit utique quem magno pretio redemit, wo
das Wort
pretio nicht nur in M P N, sondern auch bei Rhenanus
fehlt; ebenso
p. 433, 18, wo F Et falso enim gegen das einfache Falso
der gesamten
anderen Ueberlieferung bietet.
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VI. Abhandlung: Kroymann.
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aufweist, was wohl auf Correctur des Schreibers selbst
zurück-
zuführen sein dürfte.
So p. 427,
3, wo Marcion angeredet wird: Nam et mor-
tuus es, qui non es Christianus, non credendo quod
traditum
(om. N. - creditum H F) Christianos facit. Dass
das tradi-
tum so keinen Sinn ergiebt, erkannte sowohl der Schreiber
von N, wie der des Hirsaugiensis. Der letztere ändert in
cre-
ditum, der erstere aber lässt es einfach weg. Beides
hilft nicht,
die wirkliche Heilung wird durch Umstellung erreicht: non
credendo traditum, quod Christianos facit. Vergleiche die
kurz
vorhergehenden Worte: Si tantum Christianus es, crede
quod
traditum est. Die Neigung, wegzulassen, um den Anstoss zu
beseitigen, lässt sich auch sonst aufzeigen, z. B. p.
433, 15:
Sed iam hic responde, interfector veritatis, norme vere
cruci-
fixus est deus? nonne vere mortuus est, ut (P M F : et)
vere
crucifixus? nonne vere resuscitatus, ut vere scilicet
mortuus?
- Bei der überlieferten Lesart et waren die Worte et
vere
crucifixus nicht nur überflüssig, sondern
unerträglich, und des-
halb hat sie der Schreiber von N, anstatt in ut zu
ändern,
ganz weggelassen. Auch einzelne Worte, welche unbeschadet
der Deutlichkeit des Sinnes wegfallen können, fehlen
öfters,
wohl nicht zufällig, in N, so p. 432, 17: Stulta mundi
elegit
deus. Quaenam haec stulta (stulta om. N)? Die
sofortige
Wiederholung des Wortes stulta scheint dem Schreiber
miss-
fallen zu haben. - p. 440, 9: - - ut quos illi nuntiabant
foris, ille eos sciret absentes esse (esse om. N).
In der That
scheint der Ausdruck durch Weglassung des esse an Straff-
heit zu gewinnen. Auch eine Ergänzung des lückenhaft
über-
liefertes Textes, und zwar eine richtige, lässt sich in
N nach-
weisen. p. 441, 9: Cum indignatio parentes negat
(ita A N,
negat om. M P H F), non negat, sed obiurgat. - Die
Ueber-
lieferung des Agobardinus beweist, dass der Schreiber von
N
mit seinem eingeschobenen negat das Richtige getroffen
hat.
Aber das ändert ja leider nichts an der Thatsache, dass
N
seine Vorlage eben nicht ganz unbefangen weitergiebt,
sondern
ihr, wo es ihm nötig erscheint, durch eigene Combination
zu
Hilfe kommen zu müssen glaubt.
Die Kritik
wird hierauf, wenn auch N als Grundlage für
die recensio bestellen bleibt, immer ein wachsames Auge
haben
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Kritische Vorarbeiten für
den III. und IV. Band der neuen
Tertullian-Ausgabe.
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müssen und dieser Handschrift gegenüber nicht allzu
ver-
trauensselig sein dürfen. Von dem authentischen
Wortlaute
des Tertullian aber werden die Schriften des IV. Bandes,
bei
einer so traurigen handschriftlichen Grundlage, auf alle
Fälle
am weitesten entfernt bleiben, am allermeisten, wie mir
scheint,
in der Schrift de pallio, die nicht zum wenigsten um
ihrer
ganz verwahrlosten Ueberlieferung willen so viele und
nicht
ohne Bitterkeit behandelten Controversen hervorgerufen
hat.
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